Pestizide aus der konventionellen Landwirtschaft verbleiben nicht nur auf den dafür vorgesehenen Ackerflächen, sondern verbreiten sich laut einer aktuellen Studie kilometerweit durch die Luft. Glyphosat konnte beispielsweise an allen bundesweit verteilten Messpunkten nachgewiesen werden.
In der Bundesrepublik werden laut dem Umweltbundesamt jährlich zwischen 30.000 und 35.000 Tonnen Pflanzenschutzmittel oder Pestizide verkauft, wobei die Gruppe der zur Unkrautbekämpfung eingesetzten Herbizide mit fast 50 Prozent den Löwenanteil ausmacht. Der Pestizideinsatz auf den Feldern der Bundesrepublik ist mengenmäßig seit rund 15 Jahren nahezu unverändert geblieben. Und das, obwohl seit geraumer Zeit der auf den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in direkten Zusammenhang gebrachte Rückgang der Biodiversität immer dramatischere Züge angenommen hat.
Das Umweltbundesamt hat eine ziemlich einleuchtende Erklärung für dieses Phänomen parat. Bei der aktuellen Bewertung des Pestizideinsatzes dürfte es nicht mehr nur allein um die ausgebrachten Mengen gehen, sondern vor allem um die Wirkungsintensität der jeweiligen Pflanzenschutzmittel. Und diesbezüglich kann man davon ausgehen, dass die modernen Pestizide weitaus wirksamer sind als ältere Mittel, die daher früher in höherer Dosierung verwendet werden mussten. Aus ökologischer Sicht besonders bedenklich ist laut Umweltbundesamt der „immer intensivere Einsatz hochwirksamer Breitband-Herbizide und -Insektizide". Das bringt fast zwangsläufig das umstrittene, weltweit mit am meisten verwendete Unkrautgift Glyphosat ins Spiel, ein Breitband-Herbizid, gegen das kein Unkraut und auch keinerlei sonstige Ackerbegleitflora gewachsen ist.
Anhaftung der Pestizide an Staubpartikeln und Staubkörnern
Es ist laut der 2015 erfolgten Einstufung durch die Internationale Krebsagentur IARC der Weltgesundheitsorganisation WHO „wahrscheinlich krebserregend". Pflanzenschutzmittel können nach Versickerung ins Grundwasser über das Trinkwasser und/oder über landwirtschaftliche Produkte in die Lebensmittelkette gelangen. Glyphosat soll laut einem Beschluss des Bundeskabinetts vom Herbst 2019 ab Anfang 2024 verboten werden, wobei das Aus erst noch gesetzlich verabschiedet werden muss. Übrigens wird es nicht nur in der Landwirtschaft gebraucht, sondern sogar von Privatpersonen in den heimischen Gärten eingesetzt. Von den jährlich rund 5.000 Tonnen Pestiziden, die in Privatgärten verteilt werden, enthalten schätzungsweise 90 Tonnen das Breitband-Herbizid.
Bislang war man davon ausgegangen, dass Glyphosat und andere Stoffe weitgehend auf den dafür vorgesehenen Ackerbauflächen verbleiben würden, auch wenn schon eine gewisse Streuung im direkten Umfeld bekannt war. Denn beim Spritzen können Pestizid-Tropfen versehentlich auch schon mal neben das Ziel-Feld gelangen. Auch ein mögliches Verdunsten flüchtiger Pestizide nach der Einbringung auf die Pflanze oder den Boden wird längst als unvermeidlich hingenommen, ohne dass man bislang von einem weiten Transport der Pestizide durch die Luft ausgegangen war. Dass genau dies möglich und allerorten nachweisbar ist, hat eine umfassende, im September veröffentlichte Studie bestätigt, die vom unabhängigen Büro für Integrierte Umweltbeobachtung TIEM im Auftrag des Bündnisses für eine enkeltaugliche Landwirtschaft und des Umweltinstituts München erarbeitet worden war. Dadurch konnten die Wissenschaftler die Annahme der für die Bewertung von Pestiziden zuständigen Europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde (EFSA), dass Pestizide wie Glyophosat nicht oder in nicht nennenswertem Umfang über die Luft fern der Anwendung transportiert werden können, eindeutig widerlegen. Dabei kommt der Anhaftung der Pestizide an Staubpartikel oder Staubkörner vor dem kilometerweiten Verwehen eine zentrale Rolle zu.
Für die Studie wurde von März bis November 2019 an 116 über die gesamte Bundesrepublik verteilten Standorten der Pestizidgehalt der Luft gemessen – in Städten und Dörfern, mitten auf dem Land, auf konventionellen wie auch auf Bio-Agrarlandschaften, aber auch in Naturschutzgebieten. Teilweise in weniger als 100 Metern Abstand von bewirtschafteten Feldern, teilweise auch mehr als einen Kilometer davon entfernt. Zusätzlich werteten die Wissenschaftler die Daten aus einer zwischen 2014 und 2018 erstellten TIEM-Rindenmonitoring-Untersuchung aus, bei der Pestizidrückstände in Baumrinden an 47 deutschen Standorten gemessen worden waren. So konnten für die aktuelle Studie Proben von insgesamt 163 Standorten analysiert werden.
Insgesamt konnten 152 Wirkstoffe ermittelt werden, von denen 138 eindeutig als Pestizide mit landwirtschaftlichem Ursprung identifiziert werden konnten. Von diesen 138 Substanzen waren 30 Prozent zum jeweiligen Messzeitpunkt nicht mehr oder noch nie behördlich zulässig gewesen, darunter beispielsweise der Insektizid-Altlaststoff Lindan, der seit 2015 von der WHO offiziell als „krebserregend" klassifiziert wird, oder auch das seit 1977 in der Bundesrepublik verbotene Insektizid Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT), beide Substanzen bauen sich so langsam ab, dass sie auch heute noch in der Luft nachgewiesen werden können.
An rund drei Viertel aller untersuchten Standorte wurden jeweils bis zu 34 Pestizidwirkstoffe oder deren Abbauprodukte gefunden. Besonders weit verbreitet waren die fünf Pestizide Glyphosat, Prosulfocarb, Pendimethalin, Terbuthylazin und Metolachlor. Die beiden letzteren Substanzen tauchen immer häufiger im Grundwasser auf. Die geringste Pestizid-Gesamtbelastung konnte im Nationalpark Bayerischer Wald registriert werden, wo neben Glyphosat nur noch vier weitere Pestizide identifiziert werden konnten. Dagegen waren es auf der Spitze des Brockens im Nationalpark Harz immerhin schon zwölf Pestizide. Auch in größeren Städten konnten sich Pestizide verifizieren lassen, in Berlin waren es 18 Substanzen, von denen nur zwei für die Nutzung in Hausgärten zugelassen sind, in München „nur" drei.
Bis zu 34 Pestizidwirkstoffe
Karl Bär, der Agrarexperte im Umweltinstitut München, stufte die Studien-Ergebnisse als „schockierend" ein, weil letztlich Pestizid-Rückstände auch „in schützenden Naturräumen, auf Bio-Äckern und in unserer Atemluft" landen würden. Ähnlich äußerte sich sein Mitstreiter Boris Frank, Vorsitzender des Bündnisses für enkeltaugliche Landwirtschaft, der vor allem die Kontaminierung von Bio-Landwirtschaftsflächen durch frei fliegende Pestizide anprangerte: „Ganze Ernten gehen so verloren." Beide Öko-Aktivisten forderten daher das sofortige Verbot der fünf am häufigsten nachgewiesenen Pestizide, darunter natürlich an erster Stelle Glyphosat. Darüber hinaus verlangten sie von den Pestizid-Herstellern finanzielle Ausgleichzahlungen für Bio-Betriebe, deren Anbauflächen durch Pflanzenschutzmittel in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Zudem müsse künftig bei Zulassungsverfahren für neue Pestizide dem Tatbestand einer Verbreitung der Substanzen durch die Luft endlich Rechnung getragen werden.
Erwartungsgemäß lief der Industrieverband Agrar (IVA) Sturm gegen die Ergebnisse der Studie. Die nachgewiesenen Mengen seien „so minimal, dass sie für Mensch und Umwelt unbedenklich" sein müssten. „Hier wird ein Thema künstlich aufgebauscht", so der IVA-Hauptgeschäftsführer Frank Gemmer. „Pflanzenschutzmittel leisten einen wichtigen Beitrag, Qualität und Ertrag unserer Nahrungsmittel zu sichern."
Bundesumweltministerin Svenja Schulze vertritt eine gänzlich andere Meinung, sie sieht die Ergebnisse als besorgniserregend für den Ökolandbau und die Natur an. Ihr bereite zusätzlich der bislang noch unerforschte sogenannte Cocktaileffekt, die Vermischung und Wechselwirkung verschiedenster Pestizid-Substanzen in der Luft, Magenschmerzen: „Wir wissen überhaupt noch nicht, wie dieser Cocktail aus verschiedenen Pflanzenschutzmitteln am Ende wirkt." Untätigkeit kann man dem Bund allerdings beim Thema Luft-Pestizid-Belastung nicht vorwerfen, denn immerhin hat das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit Ende August ein Pestizid-Monitoring-Gutachten veröffentlicht. Allerdings wurde das löbliche Vorhaben vom Umweltinstitut München sogleich deutlich kritisiert, da die bundesweit vorgesehene Zahl von wenigstens drei Mess-Stationen als viel zu klein erachtet wurde, um aussagekräftige Ergebnisse liefern zu können.