Trotz Corona weniger private Schuldner – ein gutes Zeichen? Nein: Laut dem aktuellen „Schuldenatlas 2020" verschleiert die Pandemie derzeit das wahre Problem. Vor allem Rentner sehen sich verstärkt einem Berg unbezahlter Rechnungen gegenüber.
Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Das prognostiziert jedenfalls die private Wirtschaftsauskunftei Creditreform. Eine der größten deutschen Auskunfteien hat jüngst ihren jährlichen Bericht zum deutschen Schuldenstand von Privathaushalten veröffentlicht. Demnach ist die Zahl der überschuldeten Privatpersonen über das Jahr 2020 hinweg gerechnet leicht gesunken – auf 6,85 Millionen. Die meisten überschuldeten Personen wohnen in Bremen, Neumünster und Pirmasens. „Der vermeintlich positive Befund ist allerdings kein Zeichen der Entspannung", erläutert Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform. Es ist eine scheinbar paradoxe Situation, die sich allerdings vor allem durch die Überbrückungshilfen der Bundesregierung erklärt, durch die Zurückhaltung der Deutschen beim Geldausgeben und vermehrtem Sparen wegen der Corona-Pandemie. 2021 könnten die Zahlen in die Höhe schnellen.
Das sieht Ines Moers von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatungen (BAG SB) ebenso. „Nach der Finanzkrise 2007, 2008 waren die Folgen für Privathaushalte etwa ein Jahr später zu spüren. Das erwarten wir jetzt genauso", so die Geschäftsführerin des Bundesverbandes. Das liege jedoch nicht nur an der Pandemie, sondern auch an erwarteten Gesetzen. Denn die Privatinsolvenz soll laut einem Gesetzesentwurf des Bundesjustizministeriums von Februar 2020 bald nicht mehr sechs, sondern laut EU-Richtlinie nur noch drei Jahre dauern. Deshalb werden, in Erwartung des neuen Gesetzes, Insolvenzen aufgeschoben. Doch statt eines neuen gesetzlichen Rahmens erschien ein Virus, der das Problem aus Sicht der Schuldnerberatungen weiter aufschob.
Die „Gläubiger haben nun zum Großteil Verständnis für die säumigen Zahler" angesichts der Situation, möglicherweise greifen noch Selbsthilfemechanismus wie das Anpumpen von Familie und Freunden. „Letztlich aber, wenn all jene Mechanismen nicht mehr greifen, landen die Menschen bei uns", erklärt Ines Moers, „und dies findet immer zeitverzögert zu einer Krise statt." Momentan erleben die deutschen Schuldnerberatungen ein bislang unbekanntes Klientel: Soloselbstständige, Klein- und Einzelunternehmer.
Der Großteil der überschuldeten Personen ist laut Creditreform-Studie 30 bis 39 Jahre alt. Deren Zahl ist gesunken. Angestiegen jedoch ist die Zahl derer, die im Alter mehr Schulden anhäufen, als sie finanziell verkraften: Die Zahlen der Auskunftei zeigen, dass immer mehr alte Menschen in Deutschland ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Seit 2013 habe sich die Zahl der überschuldeten Verbraucher im Alter ab 70 Jahren mehr als vervierfacht – auf mittlerweile rund 470.000 Betroffene, so die Verfasser des „Schuldenatlas". Auch die Tafeln in Deutschland berichten über eine wachsende Not bei älteren Mitbürgern. Die Anzahl der Senioren, die bei den Tafeln Lebensmittel abholten, sei „innerhalb nur eines Jahres alarmierend gestiegen", erklärt der Vorsitzende der Tafel Deutschland, Jochen Brühl. Bereits in 15 Jahren könne jede fünfte Rentnerin oder jeder fünfte Rentner von Altersarmut bedroht sein.
Grund dafür sind ein wachsender Niedriglohnsektor und fragmentierte Arbeitsbiografien, aber auch die Kürzung des Renten-Sicherungsniveaus der vergangenen Jahre. Laut Rentenlexikon des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales stellt dieses Sicherungsniveau dar, wie leistungsfähig die Standard-Durchschnittsrente in Deutschland gegenüber dem Durchschnittsverdienst ist – vor Steuern. Laut der Deutschen Rentenversicherung lag das Sicherungsniveau 2019 bei 48 Prozent und soll laut Sozialgesetzbuch bis 2025 48 Prozent „nicht unterschreiten".
Ines Moers bestätigt, dass die Zahl überschuldeter Senioren steige: „Es gibt mittlerweile Schuldnerberatungen, die sich auf das Klientel der älteren Schuldner fokussiert haben. Deren Schamgefühl ist viel stärker. Die Lösungsmöglichkeiten für jene Personenkreise sind stark eingeschränkt, im Gegensatz zu Jüngeren, die vielleicht noch den Job wechseln können oder noch mal umziehen wollen."
Insgesamt spiegele sich in den Zahlen noch einmal die robuste Verfassung des Arbeitsmarktes bis zum Frühjahr 2020 wider. Dieser Positivtrend habe sich aber durch die Corona-Pandemie spätestens ab April gewendet, so die Experten. Für die nächsten Jahre rechnet Creditreform wegen der Pandemie mit einer deutlichen Verschlechterung der Situation. „Die langfristigen Perspektiven für die Überschuldungsentwicklung sind besorgniserregend", sagt der Creditreform-Experte Patrik-Ludwig Hantzsch. Kurzarbeit und wachsende Arbeitslosenzahlen führten im Augenblick dazu, dass viele Verbraucher in Deutschland weniger Geld zur Verfügung hätten. Rund 700.000 Menschen hätten zwischenzeitlich den Arbeitsplatz verloren, Millionen seien in Kurzarbeit und viele Freiberufler kämpften um ihre Existenz. Dies werde zeitlich versetzt zu einem Anstieg der Überschuldungsfälle führen.
Und damit vermutlich auch mehr Beratungsleistungen der Schuldnerberatungen. Allerdings: „Für das Thema Überschuldung fühlt sich derzeit auf Bundesebene niemand zentral zuständig", mahnt derweil die BAG SB, während es auf Landesebene eine gute Zusammenarbeit gebe. Änderungen im Insolvenzrecht, dem Pfändungsschutz und bei den Inkassokosten stellen die Schuldnerberatung kommendes Jahr vor neue Herausforderungen.
Die Aussichten sind laut den Forschern von Creditreform eher düster. Hantzsch: „Ein Ende der gesundheitspolitischen und ökonomischen Krisenlage ist angesichts des ansteigenden Infektionsgeschehens nicht absehbar – die unmittelbaren und mittelbaren Folgewirkungen werden für Wirtschaft, Gesellschaft und Verbraucher gravierender sein als die der Weltfinanzkrise 2008 und 2009."