Jessica Rosenthal will den Kapitalismus überwinden, Vermögen besteuern und die Welt verändern: Wer ist die Frau, die sich um den Juso-Vorsitz bewirbt?
Ein Blick auf ihre Schule, schon sprudelt es aus Jessica Rosenthal heraus. „Seit zehn Jahren soll das Gebäude neu gebaut werden", sagt die 27-Jährige und zeigt auf die Fassade, die früher mal blau war. „Ich frage mich, ob das in der Südstadt auch so lange dauern würde."
Rosenthal möchte zur Chefin der „Jusos" gewählt werden, der Nachwuchsorganisation der SPD. Hauptberuflich arbeitet sie als Deutsch- und Geschichtslehrerin an einer Bonner Realschule – nicht in der Altstadt oder im Villenviertel, wo in jedem zweiten Fenster eine Beethoven-Büste steht. Sondern in Tannenbusch. Dort, wo die Armut größer ist und die Chancen geringer sind als in anderen Teilen der Stadt. Ein Ort, wie geschaffen für eine aufstrebende SPD-Politikerin.
Soziale Gerechtigkeit ist Rosenthals großes Thema. Ihr Referendariat hat sie an einer gut ausgestatteten Schule gemacht – „eine ganz andere Welt", wie sie sagt. Hier in Tannenbusch seien die Schüler und Schülerinnen genauso wissbegierig wie überall sonst. Nur die Voraussetzungen seien andere: keine Whiteboards, keine Beamer, stattdessen hohe Sprachbarrieren und zu wenig Personal. „Manche Fenster sind kaputt und lassen sich nicht richtig öffnen", erklärt sie. „Das ist natürlich besonders ärgerlich in Corona-Zeiten."
Als Kevin Kühnert Anfang August bekannt gab, den Vorsitz der Jungsozialisten abgeben zu wollen, zeigte sich Rosenthal interessiert. „Ja, ich werde beim Bundeskongress im November kandidieren." Und feuerte in Interviews auch gleich aus allen Rohren. Den auf Ausbeutung beruhenden Kapitalismus? Müsse man überwinden. Das profitorientierte Gesundheitssystem? „Pervers." Den öffentlichen Nahverkehr? Bitte kostenlos anbieten! Mit solchen Statements machte sich die 27-Jährige, die aktuell den NRW-Landesverband der Jusos anführt, schnell bekannt.
In Bonn-Tannenbusch erkennt sie noch niemand. Bei einem Rundgang durch das Viertel erläutert sie, was in ihren Augen falsch läuft in Deutschland. Eine Hochhaus-Siedlung kommt in Sichtweite. „Da gibt es große Probleme", sagt sie und erzählt von Immobilienfirmen, die zwar gerne die Miete kassierten, Mängel aber nur zögerlich behöben. „Immer mehr Menschen werden verdrängt", sagt sie, „und ich frage mich: Wem gehört eigentlich die Stadt?" Die Antwort gibt sie gleich selbst: „Leider vor allem denen mit den dicksten Portmonnaies." In diesem Moment kommt ein Flaschensammler vorbei und durchwühlt die umliegenden Mülltonnen.
„Wer nur auf dem Sofa sitzt, kann nix verändern"
Ihre Aussage zum Kapitalismus sei vielfach missinterpretiert worden, betont Rosenthal. „Diejenigen, die denken, ich will zurück zur DDR, liegen falsch. Die DDR war eine Diktatur. Ich bin durch und durch Demokratin." Stattdessen gehe es ihr um Umverteilung und Gerechtigkeit. „Ich stehe für die sozial-ökologische Wende", ergänzt sie. „Die Ausbeutung der Natur, der Menschen und des globalen Südens müssen aufhören. Bei den Jusos habe ich WeltveränderInnen gefunden, die das auch so sehen." Sie spricht solche Sätze mit Bedacht. Das Binnen-I ist fast immer dabei.
Wäre sie bei solchen Positionen nicht auch bei den Grünen gut aufgehoben? Nein, meint die SPD-Frau. „Wenn ich den Klimawandel zurückdrängen will, dann müssen sich untere Einkommensschichten den Strom trotzdem leisten können. Da sind mir die Grünen zu einseitig."
Und Olaf Scholz, der designierte SPD-Kanzlerkandidat, der einst für die Agenda 2010 und damit auch für Hartz IV eintrat? „Jubelstürme hat seine Wahl bei uns nicht ausgelöst", sagt Rosenthal – ihr Standardsatz, wenn sie nach Scholz gefragt wird. Die SPD habe sich in den vergangenen Jahren verändert, und damit auch der Kanzlerkandidat. „Von Hartz IV haben wir uns verabschiedet."
Wer die direkte, weniger diplomatische Jessica Rosenthal erleben möchte, muss nur den Youtube-Kanal der NRW-Jusos durchstöbern. Als sie 2018 den Vorsitz übernahm, beantwortete sie 30 Fragen in 180 Sekunden. Nazis: „Sind scheiße." Seehofer: „Ein Vollidiot, ein Spalter, ein Hetzer." NRW-Innenminister Herbert Reul: „Skandalminister, der spätestens seit dem Hambacher Forst zurücktreten muss." Letztes Karnevalskostüm: „Robin Hood."
Ein würdevolles Leben ist Rosenthal wichtig. Gut ausgestattete Schulen, bezahlbare Strompreise, kostenlose Busfahrten: Wie all das bezahlt werden soll, dazu sagt sie wenig Konkretes. Von der Schuldenbremse hält sie nichts, von höheren Steuern auf Vermögen dagegen viel. Sie wolle die SPD für junge Leute wählbar halten, sagt Rosenthal. Auf die Frage, was sie an der eigenen Partei stört, antwortet sie: „Es gibt nie eine Partei, mit der man 100 Prozent übereinstimmt. Ich finde inhaltliche Auseinandersetzungen aber extrem wichtig."
Ihre eigenen Schüler hätten von ihrem Engagement noch nichts mitbekommen. Überhaupt achte sie streng darauf, Job und Politik zu trennen. „Ich prüfe im Unterricht noch viel stärker, ob ich die Vielfalt der Meinungen abbilde", sagt Rosenthal. Allein die Zeit wird ihr manchmal knapp: Seit März ist sie außerdem Vorsitzende der Bonner SPD, weshalb sie ihre Lehrer-Stelle auf 60 Prozent reduziert hat. Sie lacht. Zwar werde nun das Geld etwas knapper, aber eine Vollzeitstelle sei im Moment einfach nicht drin.
Zurück auf dem Schulhof. Eine weitere Flaschensammlerin durchsucht die Abfalleimer, diesmal eine ältere Frau. Ein junger Mann fährt mit seinem Roller im Kreis und lässt dabei die Reifen quietschen. „Ich bin unheimlich gerne in Bonn", sagt Rosenthal. Klar gebe es auch auf kommunaler Ebene viele Probleme. Die Kombination aus dörflichen Stadtteilen und internationalem Großstadtflairhat es ihr aber angetan: „Um es mit einem Hashtag zu sagen, ich bin #bonnverliebt." Und doch brennt in ihr der Wunsch nach etwas Größerem, nach Berlin und Bundespolitik. „Ich bin davon überzeugt, dass der Einzelne was verändern kann", sagt sie. Das mag abgedroschen klingen, wirkt aus ihrem Mund aber glaubhaft. Denn was wäre schon die Alternative? „Wer nur auf dem Sofa sitzt, kann auch nix verändern."