Die Jusos stehen in den Startlöchern und vor einem Umbruch. Kevin Kühnert will in den Bundestag, Jessica Rosenthal Juso-Bundesvorsitzende werden. Inhaltlich liegen beide auf einer Linie und kämpfen für ein „progressives Bündnis".
Frau Rosenthal, das Wort „Markt" scheint für Sie ein regelrechtes Reizwort zu sein …
Uns wurde in der Vergangenheit immer vorgemacht, dass der Markt alles regelt. Gerade im Gesundheitssystem sehen wir aber, dass der Markt nicht alles regelt, sondern dass wir zum Teil Sparten in der Medizin haben, die sich nicht rechnen und deshalb weniger attraktiv sind. Das Prinzip, dass Gewinne bei einzelnen Unternehmen bleiben, Verluste aber kollektiviert werden, sehen wir zum Teil im Gesundheitssystem. Bestimmte Sparten sind attraktiv, die werden dann privatisiert, aber beispielsweise Kinder- und Jugendkrankenhäuser werden geschlossen. Es dauert teilweise Stunden, bis ein Kind in einer entsprechenden Fachklinik ankommt. Man muss auch ganz deutlich sagen, dass etwas, was uns jahrzehntelang erzählt wurde, nämlich dass wir eigentlich einen „verzwergten Staat" brauchen, dass die Kommunen ihre Grundstücke verkaufen sollen, dass man das Tafelsilber am besten auch noch mit raushaut: Das sind alles Sachen, die uns am Ende schwächen – als Gemeinschaft. Wir brauchen bestimmte Aufgaben in der Daseinsvorsorge weiter in der Hand der Allgemeinheit, weil sie eben auch für die Allgemeinheit da ist. Da ist das Marktprinzip nicht angemessen.
Das ist eine klassische linke Position, die Sie damit vertreten. Wollen Sie diesen Kurs auch im Fall ihrer Wahl als Juso-Vorsitzende fahren?
Natürlich ist das eine Analyse, die wir Jusos schon lange vertreten. Ich denke, dass jetzt auch noch einmal deutlich geworden ist, dass eben nicht nur die Jusos, sondern auch die SPD sie an vielen Stellen vertritt. Insbesondere, was die Wichtigkeit der Daseinsvorsorge angeht. Wir haben beim letzten Parteitag beschlossen, dass wir die Schuldenbremse nicht mehr haben wollen und dass wir einen investierenden Staat brauchen. Die Transformation hin zu einer ökologischen Industrie, vor der wir jetzt stehen, braucht Geld, staatliche Mittel und auch einen gewissen Handlungsspielraum. Das Prinzip, nach welchem wir bisher agiert haben, bringt uns nicht weiter, sondern – im Gegenteil – macht uns sogar ärmer. Das sieht man auch in den Kommunen: Um der Wohnungspolitik zu begegnen, müssen wir teuer Boden zurückkaufen – wenn denn die Kommunen Geld hätten. Wir verlieren also etwas und zwar als Allgemeinheit. Der Staat steht ja nicht für etwas außerhalb von uns, der Staat sind wir alle. Jetzt ist der Moment, in dem wir sagen müssen: Schluss damit! Denn spätestens die Corona-Krise hat gezeigt, dass der Staat in einigen Punkten handlungsfähig sein und dafür sorgen muss, dass es allen gut geht.
Sie haben ein „neues Versprechen auf die Zukunft" gefordert. Heißt das, das alte hat nicht funktioniert?
Ich – und auch viele andere in meiner Generation – haben in der Vergangenheit erlebt, dass man nicht das Gefühl hat, dass eine bessere Zukunft auf uns wartet. Gerade auch im Hinblick auf den Klimawandel. Wir haben auch erlebt, dass es eine Art Mentalität gibt, die besagt: „Du musst eben schauen, dass du eine gute Ausbildung hast, damit du nicht arbeitslos wirst und dann ins Bodenlose fällst!" Ich will, dass es stattdessen wieder heißt: „Deinem Kind wird es mal besser gehen!"
Dafür braucht es zwei Dinge: Zum einen die Transformation, insbesondere der Industrie, aber auch der Energiewirtschaft insgesamt, zum anderen aber auch eine andere Rolle des Staats. Das heißt für mich, dass der Staat wieder investieren muss, aber auch den Sozialstaat insgesamt weiterentwickeln zu müssen. Mit Hartz IV muss Schluss sein. Das ist eine Armutsfalle, das haben wir gesehen. Auch Kinderarmut hat ganz viel mit Hartz IV zu tun. Wir brauchen ein Existenzminimum, auf das jeder zählen kann, und vor allem brauchen wir einen Staat, der den Menschen auf Augenhöhe begegnet und sie in Arbeit bringen will und nicht von vornherein negativ da rangeht und sanktioniert. Wir brauchen einen Staat, der die Menschen befähigt. Das sind Teilaspekte, die wir für einen Sozialstaat weiterentwickeln müssen.
Auch Fridays for Future wollen eine bessere Zukunft: Hat die Bewegung den politisch engagierten Jugendlichen etwas vorgemacht?
Nein, auf keinen Fall. Wir als Jusos begreifen uns als Jugendorganisation, die sowohl in der SPD verankert, als auch sehr bewegungsnah ist. Es gibt immer wieder Bewegungen auf der Straße, die auch gut sind. Wir brauchen Bewegungen, die Akzente setzen. Das ist nicht nur Fridays for Future, sondern beispielsweise auch die „Black Lives Matter"-Bewegung. Dass die Zivilgesellschaft sagt, dass etwas nicht gut läuft, ist absolut wichtig. Für mich ist aber auch wichtig, dass wir uns als junge Generation begegnen und sagen: Ja, es ist wichtig auf der Straße zu sein, aber bitte kommt auch in die demokratischen Parteien! Dort kann man zusammen etwas verändern, und dort braucht man junge Menschen. Denn dort wird am Ende unsere Zukunft entschieden. Wenn man sich jetzt aber einmal die Altersstruktur in den Parteien anschaut, dann machen das gerade nicht unbedingt die Menschen, deren Zukunft diese Entscheidungen nachher betrifft …
Fraktionschef Rolf Mützenich hat angesprochen, man müsse auf die „Möglichkeit des progressiven Lagers" schauen. Heißt das Rot-Rot-Grün?
Ich stimme ihm auf jeden Fall einmal zu: Ja, wir brauchen dieses progressive Bündnis. Wenn die SPD es alleine nicht machen kann, dann muss man schauen, wer dieses progressive Bündnis sein könnte. Rot-Rot-Grün käme sicherlich infrage. Ich denke allerdings, dass auch die anderen Parteien ihr Verhältnis dazu ein Stück weit klären müssen. Die Linkspartei ist, was das angeht, ja auch noch mit sich selbst beschäftigt. Ich sehe positive Signale, aber letztlich muss die Linkspartei das für sich entscheiden. Natürlich muss man über gewisse Punkte ins Gespräch kommen, aber das ist immer so, wenn man ein Bündnis eingeht. Wo ich die Entwicklung aber doch sehr gespannt beobachte, ist bei den Grünen. Ich sehe, dass die vor allem sehr viel mit der Union flirten. Die Grünen müssen selbst entscheiden, ob sie für diese Art von progressivem Bündnis stehen wollen. Ich bin der Meinung, es ist sehr wohl an der Zeit, nach 16 Jahren Merkel die CDU in die Opposition zu schicken. Wir beobachten in der großen Koalition immer wieder, dass die Union nur Bremsklotz-Politik betreibt. Wenn ich mir überlege, wie viele wichtige Gerechtigkeitsanliegen der SPD die Union schon in dieser Koalition verhindert hat und dass immer wieder diese Frage von Verhinderung das ist, was die Union antreibt, dann muss ich sagen: Meine Generation hat es verdient, dass ein progressives Bündnis die Veränderungen, die vor uns stehen, jetzt auch beschreitet.
Zahlenmäßig sieht es allerdings aktuell nicht so aus, als wäre Rot-Rot-Grün eine denkbare Option …
Wir sprechen hier ja erst einmal nur von Umfragen. Natürlich bin auch ich mit den Umfragewerten der SPD nicht zufrieden, auch wenn ich sagen muss, dass die Entwicklung im Vergleich zum Ende des vorigen Jahres in die richtige Richtung geht. Trotzdem ist es eine Momentaufnahme. Das, was wir da sehen, ist ein Merkel-Hoch. Davon bin ich überzeugt. Und von diesem Merkel-Hoch wird die CDU in eine Führungskrise schlittern. Wir haben einen Friedrich Merz, der für Abschaffung von Sozialausgaben steht, der einen Kurs fährt, der in einer Zeit stehen geblieben ist, die wir schon lange überwunden haben. Und wir haben einen Armin Laschet, der als Krisenmanager vollständig versagt und sich für höhere Aufgaben disqualifiziert hat. Dann werden wir sehen, wie sich die Umfragen entwickeln. Da würde ich noch nicht sagen, dass Rot-Rot-Grün keine Option wäre. Wenn wir dieses Bündnis wollen und hart dafür kämpfen, dann ist da noch viel mehr möglich.