Keiner wusste so recht, ob der Transfer von Max Kruse zu Union Berlin ein Coup oder ein großes Missverständnis werden würde. Schon jetzt lässt sich sagen: Es passt!
Max Kruse bekommt bei Union Berlin mit die meiste Fanpost. Kein Wunder, der Stürmer ist als ehemaliger Nationalspieler sehr prominent, und er sorgt auf und neben dem Platz für Schlagzeilen. Viele Union-Anhänger haben den früheren Bremer deswegen schon ins Herz geschlossen, aber eben nicht alle. Der Brief eines erbosten Fans, den Kruse nach einem Training in die Hand gedrückt bekam, schoss dabei klar übers Ziel hinaus. Doch Kruse wäre nicht Kruse, würde er diese Steilvorlage nicht für eine (Selbst-)Inszenierung nutzen. Der 32-Jährige las den Brief in einem Instagramvideo selbst vor und verbreitete die unappetitliche Nachricht damit überhaupt erst in die Welt. „Max Kruse, du gehirnloses menschliches Wesen, verpiss dich aus unserem Verein. So einen schwachsinnigen Spieler gab es noch nie bei Union. Also gehe freiwillig, bevor wir dich aus dem Stadion jagen", las Kruse im Stile eines Nachrichtensprechers ab. Anschließend redete Kruse direkt in die Kamera zum „natürlich unbekannten Absender". Dieser dürfe „natürlich gerne auch noch mal offiziell herkommen" und ihm alles so „ins Gesicht sagen oder sich einfach melden". Und dann wünschte Kruse dem „Fan" mit erkennbarer Ironie in der Stimme „natürlich auch einen schönen Tag".
Dieses Beispiel zeigt: Kruse juckt es nicht, was andere über ihn denken. Er zieht sein Ding durch. So unkonventionell der Angreifer auf dem Platz agiert, so ist er auch im privaten Leben unterwegs. Und Union muss als Verein damit klarkommen, denn einen Max Kruse gibt es nur als Original. „In erster Linie geht es um die Leistung auf dem Feld. Dann gibt es aber auch noch den Max privat", sagte Trainer Urs Fischer, „da äußert er sich manchmal vielleicht ein bisschen anders, als ich das tun würde. Aber das ist auch sein gutes Recht." Die Verantwortlichen wussten von Beginn an, dass sie in Kruse nicht den pflegeleichtesten Profi verpflichtet haben. Und dass seine Aktionen viel Aufmerksamkeit und womöglich auch Unruhe auf den Club ziehen würden. „Natürlich wissen wir, dass an Max Kruse ein höheres Interesse besteht als an unserem Busfahrer. Wir sind nicht naiv", sagte Oliver Ruhnert. Der Clubmanager will Kruse an der langen Leine halten, er stellte aber auch klar: „Wenn es mir zu bunt wird, sage ich es."
Einen Max Kruse gibt es nur als Original
Womöglich musste Kruse zuletzt das eine oder andere Mal in Ruhnerts Büro zum Gespräch antanzen. Zuerst gab es Ärger wegen eines Poker-Abends mit wildfremden Menschen in einer Shisha-Bar, was angesichts der strengen Hygieneauflagen in der Bundesliga bestenfalls unvernünftig war. Dann sorgte der exzentrische Stürmer für Wirbel, als er seinen Ärger über eine Geschwindigkeitskontrolle der Polizei in einer 30er-Zone auf Instagram Luft verschaffte. „Sorry, aber fünf Meter nach einem Schild einen Blitzer hinzustellen, ist schon stark asozial", schrieb Kruse, auf dem Foto war zudem das Wort „Schweine" zu sehen. Nachdem zahlreiche Medien das Thema aufgegriffen hatten, entschuldigte sich Kruse. Er habe „niemanden beleidigen" wollen, natürlich würden auch für einen Fußballprofi die Verkehrsregeln gelten. „Vielleicht bin ich im Unrecht, vielleicht auch nicht", sagte er. „Ich werde die Strafe so oder so bezahlen." Vom Verein bekam er keine zusätzliche Geldstrafe aufgebrummt. „Das hat für uns überhaupt keine Bedeutung", behauptete Clubsprecher Christian Arbeit. Auch Fischer wollte den Vorfall nicht zu hoch hängen. Dass sich Kruse für seinen verbalen Fehltritt öffentlich entschuldigt hat: „Auch das zeigt seine Klasse", so der Trainer.
Deutlich beeindruckender ist jedoch, wie wenig Einfluss so ein Wirbel auf die Leistungen des Angreifers hat. Oder stachelt es ihn sogar zusätzlich an? Beim 5:0-Rekordsieg gegen Arminia Bielefeld war Kruse jedenfalls der alles überragende Mann, er spielte wie in seinen besten Zeiten und war an fast allen gefährlichen Angriffen der Unioner beteiligt. Mehr noch: Kruse verwandelte in der Alten Försterei seinen insgesamt 16. Elfmeter hintereinander in der Bundesliga und stellte damit den Rekord von Jochen Abel Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre ein. Diese Nervenstärke ist kein Zufall. Die „Bild"-Zeitung titelte hinterher: „Kruse saustark nach ‚Schweine‘-Post". Es scheint so, als ob Kruse das Vertrauen und die Toleranz, die man ihm im Club entgegenbringt, mit Leistungen zurückzahlen will. „Wir akzeptieren jeden, wie er ist. Max Kruse ist ein sehr positiver Typ, es macht viel Spaß mit ihm", sagt Kapitän Christopher Trimmel. Im Moment sei es „ein Geben und Nehmen" zwischen dem Individualisten Kruse und dem Kollektiv Union, meint auch Fischer: „Auf der einen Seite spürt Max die Unterstützung, die ein Spieler seiner Qualität braucht. Aber auf der anderen Seite ist er sich nicht zu schade, auch lange und weite Wege in Kauf zu nehmen. So kann es funktionieren."
Acht Scorer-Punkte in sieben Spielen
Die Berliner profitieren vor allem von Kruses fußballerischer Genialität. Der 14-malige deutsche Nationalspieler erkennt Lücken blitzschnell, er hat ein ausgeprägtes Spielverständnis und einen enormen Zug zum Tor. Acht Scorer-Punkte in den ersten sieben Spielen sind herausragend. Was ihm aber völlig abgeht, ist der Trainingsfleiß. „Man sieht ihn nicht so oft", sagt Mitspieler Robert Andrich schmunzelnd. „Er ist der Letzte, der kommt. Er geht beim Treffpunkt immer auf die letzte Sekunde aus dem Auto raus." Aber das sei nun mal „seine Art", und keiner im Team nehme ihm das übel. Ganz im Gegenteil: „Er tut uns momentan gut."
Momentan. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich vorzustellen, dass Kruses eigenwilliges Verhalten auf und neben dem Platz im Misserfolgsfall auch teamintern ein Problem werden könnte. Damit es nicht dazu kommt, treibt ihn der Trainer weiterhin an. „Wenn es um die körperliche Fitness geht, da haben wir noch ein bisschen Luft nach oben", sagte Fischer, der von Kruse „den einen oder anderen Sprint mehr" sehen möchte. Ein Dauerläufer wird aus Kruse nicht mehr, und das kleine Bäuchlein, das sich unter seinem Trikot abzeichnet, wird vielleicht auch nicht mehr verschwinden. Doch dass der Lebemann nach seiner Sprunggelenksverletzung, wegen der er in der Sommervorbereitung fast ausschließlich individuell trainieren konnte, nahezu aus dem Stand heraus Top-Leistungen abruft, ist bemerkenswert. Möglich ist das nur, weil sich Kruse bei Union wohlfühlt. „Der Club hat Charme", sagt Kruse, er wolle die „sehr gute Entwicklung der letzten Jahre" fortführen und „ein Teil dessen sein, was sich in den nächsten Jahren hier noch bewegt." Schon nach den ersten Monaten lässt sich sagen: Der gewagte Transfer geht auf. Trotz oder gerade wegen seiner Eskapaden. Trainer Fischer nimmt sie (noch) gelassen. Es wäre ja auch „langweilig", sagt der Schweizer, „wenn alle gleich wären wie wir".