Schiffchen, Kettfaden, Schuss und Spule: In Wuppertal produziert eine Firma auf historischen Webstühlen Schmuckbänder für den modernen Markt. Eine einzigartige Erfolgsgeschichte aus dem Westen der Republik.
Der Lärm ist ohrenbetäubend. Ein infernalisches Knattern, Rasseln, Zischen und Stottern. Wer die Tür zu dem schmucken Backsteinbau in Wuppertal-Langerfeld öffnet, betritt nicht nur eine höllische Geräusch-Kakofonie, sondern auch eine Welt wie vor hundert Jahren. „Willkommen in der Bandweberei Kafka", sagt Christian Lenkeit mit breitem Lächeln. Der 37-Jährige in beigefarbener Feincordhose, weißem Hemd und Hosenträgern, ist gelernter Maschinenanlageführer Fachbereich Textil – eine Bezeichnung, die so gar nicht zu dem einzigartigen historischen Ambiente passen will, das sich hier vor Augen und Ohren auftut. Deshalb nennt sich Lenkeit lieber „Bandweber". Als Webmeister ist er der Herr über 25 gewaltige, über 100 Jahre alte Jacquard-Webstühle, die hier auf Hochtouren laufen und die Wände der denkmalgeschützten Fabrikhalle zum Beben bringen.
Die optische, akustische und physikalische Kraft zu erleben, die diese mächtigen Maschinen entfalten, ist für den Laien, gelinde gesagt, gewöhnungsbedürftig, doch Lenkeit schwärmt: „Für mich ist das Musik!" Und dann: „Ist es nicht fantastisch, dass eine derart grobe Maschine so feines Band weben kann?" Denn genau das tun die fünf Vollzeit- und zwei Teilzeitmitarbeiter der Firma mithilfe ihrer antiken Schätzchen – sie weben filigranste Schmuckbänder, die hochwertige Trachtenmode, aber auch Handtücher, Tischwäsche, Gardinen, Kissen, Taschen, Hüte, Blusen oder Röcke zieren. Sogar Corona-Masken sind mit den Designs aus dem Hause Kafka neuerdings zu haben. „Die Wuppertaler Tourist-Information verkauft Masken mit einem von uns produzierten Schwebebahn-Band", verrät Lenkeit schmunzelnd. Seit 2010 arbeitet der Webmeister in der Fabrik, die auf eine lange Historie zurückblickt.
Einst größte Textilindustrie Deutschlands
Bereits im Jahr 1527 erhielt das Tal der Wupper ein herzogliches Privileg, das der Region das Monopol für gewerbliche Färbereien bescherte. Neben diesen Fabriken, die das Wasser der Wupper jahrhundertelang blutrot färbten, siedelten sich Spinnereien, Flechtereien und Webereien an. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Wuppertal mit seiner Textilindustrie – bis zu 75 Prozent der Einwohner arbeiteten darin – zum ersten und führenden Industriezentrum Deutschlands. Als „deutsches Manchester" war die Stadt bekannt.
Auch die Bandweberei Kafka hat in dieser Epoche ihren Ursprung. 1898 von Bernhard Mardey gegründet, produzierte die Firma lange Massenware: Etiketten für Kleidung und Schuhe. Als der Preisdruck aus Fernost zu groß wurde, gab Mardey wie viele andere Firmen in der einstigen deutschen Industrie-Hochburg auf. Es schlug die Stunde von Frauke Kafka, Textildesignerin. 1990 übernahm sie die 25 großen alten Webstühle, begann Muster zu entwerfen und in Gewebe umzusetzen. Schmuckbänder im traditionellen Vergissmeinnicht- oder im 80 Jahre alten Heckenrosen-Design landeten im Fangkorb der Stühle, aber auch ganz neue zeitgenössische Kreationen. Statt Massenware wurde ein hochwertiges Qualitätsprodukt entwickelt, das urplötzlich sehr gefragt war – weil die modernen Maschinen solche Ware gar nicht mehr herstellen können. Bei ihnen sind die Muster aufgedruckt – in der Fabrik Kafka, die 2018 von der Firma C. Pauli übernommen wurde, sind sie eingewebt. Bis zu sieben verschiedene Farben schaffen die Stühle, die von Joseph-Marie Jacquard 1805 revolutioniert wurden. Der Franzose ersetzte die bis dahin übliche Nockenwalze durch das Endlosprinzip der Lochkartensteuerung und schuf somit die erste „programmierbare" Maschine der Welt. Ein Loch bedeutete Fadenhebung, kein Loch Fadensenkung. Meister der Lochkarten war der sogenannte Kartenschläger, der in der Bandweberei Kafka quasi ein Reservat zum Überleben gefunden hat.
Der heute 80-jährige Arnold Klimaschewski, der schon mit 13 die Ausbildung zum Kartenschläger (heute: Programmierer Textil) begann, arbeitet im zweiten Stock der Fabrik in vergleichsweise himmlischer Ruhe. Gerade ersetzt er eine Lochkarte für das beliebte Rotkehlchen-Motiv. „Die ist nach zehn Jahren dann doch mal durch", sagt der schlanke Mann mit den grazilen Fingern, bedient die Original-Maschine und stanzt die Karte, die er danach auf der speziellen Nähmaschine in die richtige Stelle des Endlosbands einsetzt. Bis zu 900 Lochkarten können für ein Motiv notwendig sein.
Damit sein Handwerk nicht ausstirbt und die Bandweberei Kafka noch lange produzieren kann, hat er Vorsorge getroffen und bereits einen neuen Kartenschläger ausgebildet.
Mit alter Technik ein zukunftsfähiges Produkt schaffen
Dass es gerade junge Leute sind, die das alte Handwerk fasziniert, stellt Christian Lenkeit immer wieder fest. Mit seinen 37 Jahren gehört der Webmeister fast schon zum alten Eisen – die anderen Jungs an den Maschinen sind gerade mal Anfang, Mitte 20. „In einem modernen Betrieb würden wir nur Knöpfe betätigen – hier ist das anders." Die Produktion muss stets überwacht werden. Wenn etwas kaputtgeht, müssen es die Bandweber reparieren – mit uralten Ersatzteilen, die im Keller lagern. Dabei sind die bis zu zweieinhalb Tonnen schweren Webstühle zuweilen rechte Diven: Irgendeine zickt immer. Deshalb haben die Webstühle auch Namen bekommen. „So kann ich sie besser beschimpfen", erklärt Lenkeit lachend. Derzeitiges Sorgenkind ist Lilly, die eigentlich das Weihnachtsmotiv „Leise rieselt der Schnee" weben soll und bei der vielleicht der Messerkopf defekt ist. Verlässlich läuft dagegen die älteste Maschine, die daher auch den Namen „Oma" trägt. Sie wurde bereits bei der Pariser Weltausstellung 1900 gezeigt, produziert ausschließlich das Rotkehlchen-Motiv mit sechs verschiedenen Farben und ist der Stolz der Firma, die mittlerweile Kunden in der ganzen Welt hat. Vor allem in Japan schätzt man die vielfältigen Kreationen und verwendet sie für hochwertige Damen-Oberbekleidung. Aber auch die bekannte österreichische Designerin Lena Hoschek kauft für ihre Reihe an Bänderröcken regelmäßig in Wuppertal ein. Rund 400 verschiedene Produkte befinden sich im Sortiment, zwei bis drei neue Kollektionen bringt die Bandweberei Kafka jedes Jahr heraus. Für 2021 ist eine Frida-Kahlo-Serie geplant – und eine Expansion. „Es ist uns gelungen, weitere 23 historische Jacquard-Stühle zu erwerben", erzählt Lenkeit. Die sollen im nächsten Jahr wieder rattern, knattern, rasseln, zischen und stottern, was das Zeug hält.