Der nächste US-Präsident gilt als erfahren, diplomatisch, weltoffen. Doch Joe Biden hat auch eine konservative Seite. Ob er Erfolg hat, wird stark vom Senat abhängen – und von seiner eigenen Partei.
Der Frieden hielt genau einen Wahlkampf lang. Um die aktuelle Präsidentschaftswahl zu gewinnen, hatte sich die Demokratische Partei strikte Disziplin verordnet. Nicht noch einmal sollte sich das Drama von 2016 wiederholen. Damals hatte es zwischen dem linken Flügel und der Parteiführung derart gekracht, dass einige Demokraten lieber gar nicht zur Wahl gingen als Hillary Clinton zu wählen. Das Ergebnis: Donald Trump.
Diesmal – so schien es jedenfalls – standen die Demokraten geschlossen hinter ihrem Kandidaten. Joe Biden, der 78-jährige Politik-Veteran, veröffentlichte gemeinsam mit dem linken Senator Bernie Sanders (79) ein ambitioniertes Wahlprogramm. Es sieht den Ausbau der Krankenversicherung ebenso vor wie mehr Engagement im Klimaschutz, eine bessere internationale Zusammenarbeit und einen Mindestlohn von 15 Dollar – ein Anti-Trump-Pamphlet, mit dem sich die gesamte Partei anfreunden konnte. Oder doch nicht?
Kaum war die Wahl vorbei, begann die fragile Allianz zu bröckeln. Obwohl Biden die Präsidentschaft gewonnen hat, mussten die Demokraten im Repräsentantenhaus mehrere Sitze einbüßen. Das habe auch an der „linken Rhetorik" gelegen, schimpfte die (wiedergewählte) demokratische Abgeordnete Abigail Spanberger. Parolen wie „Sozialismus" oder „Kein Geld für die Polizei" hätten moderate Wähler abgeschreckt – eine Behauptung, die wiederum Parteilinke auf die Palme trieb.
Mittendrin: Joe Biden, der designierte 46. Präsident der Vereinigten Staaten. Im Wahlkampf versuchte ihn Trump als „Trojanisches Pferd" der Linken darzustellen, als Extremisten, der den Amerikanern ihre Waffen wegnehmen und das Land in eine sozialistische Diktatur verwandeln möchte – absurde Vorwürfe, die sich aber bei Trumps Fans verfingen. Doch die entscheidende Frage bleibt: Was will Biden? Steht er wirklich hinter seinem ambitionierten Wahlprogramm? Wird mit ihm alles besser? Oder ist er womöglich gar nicht der moderne Reformer, für den ihn viele halten?
Wer Biden als Person verstehen möchte, muss lange zurückgehen. In seinem Geburtsjahr 1942 war der Zweite Weltkrieg noch in vollem Gang. Der Vater, ein Autohändler, hatte mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, weshalb die Familie zeitweise bei den Großeltern wohnte. In der Schule fiel der schüchterne Joe vor allem durch sein Stottern auf – eine Schwäche, die er sich nach eigenen Angaben vor dem Spiegel selbst abtrainierte.
Zwei Kinder von Joe Biden starben
Später, auf dem College, gewann er zunehmend an Selbstvertrauen: ein gut aussehender junger Mann, der zwar nur mittelmäßige Studienleistungen ablieferte, dafür aber andere für sich begeistern konnte und leidenschaftlich Football spielte. Nach Abschluss seines Jurastudiums arbeitete Biden einige Jahre als Anwalt in seinem Heimatbundesstaat Delaware, bevor er 1970 sein erstes politisches Amt als Kreistagsabgeordneter antrat.
Zwei Jahre später, im Alter von gerade einmal 29 Jahren, zog Biden in den amerikanischen Senat ein. Die Vereidigung fand am Krankenbett seines Sohnes statt – kurz zuvor waren Bidens erste Ehefrau Neilia und eines seiner drei Kinder bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Es sollte nicht der einzige Schicksalsschlag bleiben: 2015 starb Bidens Sohn Beau an einem Gehirntumor.
Biden verteidigte seinen Senatssitz immer wieder aufs Neue – bis er 2009 schließlich von Barack Obama zum Vizepräsidenten ernannt wurde. Im Laufe seiner Karriere erwarb sich Biden den Ruf als Brückenbauer, der mit den Republikanern zusammenarbeiten kann. Auch Obama griff gern auf Bidens Talent zurück, so etwa im Jahr 2014. Damals war der Afroamerikaner Eric Garner durch den Würgegriff eines Polizisten gestorben. Wenige Monate später wurden zwei New Yorker Polizisten erschossen, womöglich ein Racheakt für Garners Tod. Die Stimmung war aufgeheizt, doch Biden schaffte es, bei der Beerdigung die richtigen Worte zu finden. Ein Versöhner, wieder einmal.
Nach seinem Wahlsieg vor wenigen Tagen begann er seine Rede mit „My fellow Americans" – „Meine amerikanischen Mitbürger". Er wolle der Präsident aller Amerikaner sein, sagte Biden. Solche Worte wären Trump nicht über die Lippen gekommen. Doch auch Biden teilt aus: Fühlt er sich persönlich angegriffen, kann seine lässige Art schnell in Grantigkeit umschlagen – so etwa im ersten TV-Duell, als er Trump als „Clown"
bezeichnete und ihm empfahl, einfach mal den Mund zu halten („Shut up").
Was Bidens politische Bilanz angeht, ist die Sache kompliziert. Während der Obama-Zeit unterstützte er leidenschaftlich dessen Gesundheitsreform, die Millionen von Amerikanern erstmals eine Krankenversicherung bescherte. Er setzte sich für die gleichgeschlechtliche Ehe ein und kämpfte für ein Verkaufsverbot von Sturmgewehren (was jedoch am Widerstand der Republikaner scheiterte). Als Vizepräsident war er gegen den Militäreinsatz in Libyen und äußerte Bedenken, als amerikanische Soldaten den Al-Kaida-Chef Osama bin Laden erschossen.
Früher vertrat er oft gegenteilige Positionen: Er befürwortete den Afghanistan- und den Irak-Krieg. Er sprach sich gegen die Ehe für alle aus. Als Senator trieb er Mitte der 90er-Jahre ein Gesetzespaket voran, nach dem auch kleine Drogendelikte mit Gefängnisstrafen geahndet werden – eine Entscheidung, die noch heute nachwirkt und dazu geführt hat, dass vor allem Schwarze zu Hunderttausenden im Gefängnis landeten. All das klingt so gar nicht nach einem Mann, der angeblich ein Trojanisches Pferd der radikalen Linken sein soll.
Heute distanziert sich Biden von der damaligen Verschärfung des Strafrechts. In seinem Wahlprogramm plädiert er für eine Justizreform, will Bürgerrechte stärken und systemischen Rassismus überwinden – sei es auf dem Wohnungsmarkt, bei Wahlkreis-Zuschnitten oder bei der Polizei. Auch will er den „ewigen Krieg" im Nahen Osten beenden. Parolen wie „Kein Geld für die Polizei" hat er nie in den Mund genommen. Solche Schlachtrufe werden vor allem von „Black Lives Matter"-Aktivisten geäußert, die rassistische Polizeigewalt anprangern. Auch bei diesem Thema handelte Biden wie so oft: Er suchte den Dialog, wollte es sich weder mit der Polizei noch mit Bürgerrechtlern verscherzen.
Der amerikanische Journalist Branko Marcetic, der eine Biografie über Biden geschrieben hat, ist sich sicher: „Dieser Mann stand immer auf der falschen Seite der Geschichte." Schlimmer: Er sei hinter der Entwicklung seines Landes zurückgeblieben, sei es im Hinblick auf Abtreibung, Außenpolitik oder Bürgerrechte. Marcetic verweist darauf, dass Biden die Überwachungsgesetze unter George W. Bush mittrug: „Als Senator hätte er dagegen anhalten können, aber stattdessen redete er Bush nach dem Mund." Marcetics Buch trägt den wenig schmeichelhaften Titel: „Yesterday’s Man", der Mann von gestern. Welche konkrete Politik Biden fährt, werde auch davon abhängen, wen er sich ins Kabinett holt: Linke Vorkämpferinnen wie die Senatorin Elisabeth Warren, die für eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte steht? Oder „Falken" wie die Verteidigungsexpertin Michèle Flournoy, die im Krim-Konflikt Waffen an die Ukraine liefern wollte?
Eines gesteht der Biden-Biograf dem neuen Präsidenten aber durchaus zu: Er werde Trumps brutale Einwanderungspolitik revidieren, gegen Rassismus kämpfen und die USA international wieder besser einbinden. Im Wahlkampf hat Biden stets betont, dass er zur Nato steht, zurück ins Pariser Klimaabkommen will und sich vorstellen kann, den Atom-Deal mit dem Iran wieder aufleben zu lassen. Höhere Militärausgaben wird indessen auch Biden von den Nato-Partnern einfordern, darüber herrscht in den USA Einigkeit. „Wir müssen realistisch bleiben", sagt der Journalist Marcetic. „Biden ist im Herzen ein konservativer Politiker."
„Im Herzen ein konservativer Politiker"
Ganz anders beurteilt Sam Rosenfeld die Lage. Der Politikwissenschaftler der Colgate University im US-Bundesstaat New York forscht zur gespaltenen Politiklandschaft in seinem Land. „Biden stand schon immer in der Mitte", analysiert Rosenfeld. „Der einzige Unterschied ist, dass seine Partei insgesamt nach links gerückt ist, und damit auch Joe Biden." Viele seiner Pläne seien für frühere demokratische Präsidenten undenkbar gewesen, etwa die Ausweitung der Krankenversicherung oder das Ziel, Elektroautos zu fördern und die USA bis 2050 CO2-neutral zu machen.
Rosenfeld treibt eine andere Frage um: Wie soll Biden es schaffen, seine Wahlversprechen umzusetzen? Noch ist offen, welche Partei die Mehrheit im Senat stellt: Weil die Entscheidung in Georgia knapp ausfiel, kommt es am 5. Januar 2021 zur Stichwahl um zwei Sitze. Gewinnen die Republikaner, könnten sie sämtliche Gesetzesvorhaben blockieren – wie schon unter Obama. „Biden hatte früher einen guten Draht zu den Republikanern", räumt Rosenfeld ein. „Heute haben wir andere Zeiten." Der republikanische Mehrheitsführer Mitch
McConnell wolle keine Kompromisse.
Und falls die Demokraten doch beide Kammern des Kongresses erobern? „Dann wird’s interessant", antwortet der Politikwissenschaftler. Ein großes Konjunkturpaket wäre ebenso möglich wie eine Rücknahme der Trumpschen Steuererleichterungen. Auch die Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro käme in greifbare Nähe. Oder die Schaffung eines staatlichen Gesundheitskorps, einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, mit der 100.000 Amerikaner zur Bekämpfung der Corona-Pandemie herangezogen werden sollen.
Die einzige Hürde: Die Demokraten müssten es schaffen, ihre Reihen zu schließen. Dass niemand querschießt, ist trotz der viel beschworenen Einheit nämlich nicht ausgemacht. Einer der Wackelkandidaten: der Demokrat Joe Manchin, der den Bundesstaat West Virginia im Senat vertritt. Er ist gegen Abtreibung, will Kohlekraftwerke erhalten und stimmte als einziger Demokrat für Trumps Mauer an der Grenze zu Mexiko.
Dass er es mit der Parteidisziplin nicht so genau nimmt, zeigte sich schon vor zehn Jahren, als er sich gegen eine Verschärfung der Umweltgesetze (und damit gegen die Obama-Regierung) stellte. In einem Wahlkampf-Spot posiert der Senator mit einem Gewehr, legt an und trifft ins Schwarze – mitten in den Gesetzestext.