Die Zuwanderung nach Europa ist eines der politisch sensibelsten Themen in der EU. Ein neuer Migrationspakt soll widerstrebende Interessen zusammenbringen.
Die massenhafte Einwanderung im Jahr 2015 hat sowohl innerhalb wie zwischen den Mitgliedstaaten der EU zu Zerreißproben geführt. Das Thema Migration hat durch jüngste Vorfälle neue Aktualität. Ein illegal eingereister junger Tunesier konnte durch Italien nach Nizza reisen und dort in der Kathedrale mehrere Menschen ermorden.
Die Corona-Pandemie führt auch in Nordafrika zu verstärkter Armut, vermehrt versuchen Menschen über das Mittelmeer oder die Kanarischen Inseln in die EU zu kommen. Das sogenannte Dublin-System zur adäquaten Aufnahme von Flüchtlingen ist leider gescheitert. Die Visegrád-Staaten Ungarn, Polen, Slowakei und Tschechien weigern sich hartnäckig, irgendeinen Migranten aufzunehmen. Andere halten sich vornehm zurück, wie kürzlich nach dem Desaster des abgebrannten Flüchtlingslagers in Moria auf der Insel Lesbos.
Die EU-Kommission hat im September einen neuen Anlauf genommen, Verantwortung wie auch Solidarität von allen 27 Mitgliedstaaten einzufordern. Nach dem neuen EU-Migrationspakt soll jeder, der in die EU einreisen will, an den Außengrenzen registriert werden. In europäischen Aufnahmezentren sollen Überprüfungen stattfinden, ob ein Schutzbedürfnis und damit ein Bleiberecht besteht. Wenn nicht, soll nach kurzer Zeit zurückgeführt werden. Alle EU-Länder sind nach wie vor verpflichtet, bei einer gerechten Verteilung der Menschen mitzuwirken.
Neu ist: Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen, müssen auf andere Weise Verantwortung und Solidarität zeigen. Entweder zahlen diese Länder mehr in den Aufbau der EU-Grenzschutzagentur Frontex, leisten verstärkt Beiträge bei der Rückführung oder zahlen für EU-Maßnahmen in den Herkunftsländern zur Beseitigung von Fluchtursachen.
„Der jetzige Zustand ist unhaltbar"
Der neue EU-Migrationspakt wird noch heiße Debatten erzeugen, bevor er umgesetzt werden kann. Flüchtlingsorganisationen kritisieren heftig den Grenzschutz-Mechanismus, da nicht genug Zeit für eine ordentliche Überprüfung der Fluchtursachen gegeben sei, das Recht auf Asyl unterlaufen werde. Die EU entwickele sich mehr und mehr zu einer Festung mit einer Strategie der Abschreckung migrationswilliger Menschen. Dagegen weist die EU-Kommission darauf hin, dass der jetzige Zustand unhaltbar ist. Migranten reisen quer durch Europa, ihr Aufenthaltsstatus bleibt über Monate oder gar Jahre ungeklärt, eine Abschiebung ist dann aus mehreren Gründen schwierig bis unmöglich. Das neue System schaffe schneller Klarheit und damit auch mehr Unterstützung in der Öffentlichkeit für Menschen, die wirklich an Leib und Leben bedroht sind und deshalb hierbleiben können.
Die jüngsten Terroranschläge in Nizza und Wien zeigen eine weitere Dimension: Wie können Gefährder rechtzeitig erkannt und auch europaweit überwacht werden? Frankreichs Präsident Macron und Österreichs Kanzler Kurz wollen das Schengen-System der Reisefreiheit überprüfen. Permanente Grenzkontrollen zwischen den EU-Mitgliedstaaten sind jedoch keine Antwort. Sie treffen die Falschen, nämlich Pendler und Millionen Menschen, die in friedlicher Absicht die Grenzen überqueren. Da wünsche ich mir lieber eine konsequente Erfassung und Überprüfung bei der Einreise in die EU, einen automatischen Datenabgleich der Sicherheitsbehörden über verdächtige Bewegungen und Begegnungen sicherheitsrelevanter Personen und eine schnellere Abschiebung aus der EU heraus.
Der neue EU-Migrationspakt ist das wohl letzte Angebot. Bei abermaliger Verweigerung hat die EU mittlerweile aber ein wirksames Instrument: Regierungen, die keine Loyalität zeigen, sollen auch kein Geld aus Brüssel bekommen. Dieses Mittel wirkt wahrscheinlich besser als jahrelanges gutes Zureden.