Der ARD-„Tatort" ist Kult, seine Fangemeinde folgt auch dann, wenn es mal exotisch wird oder die Experimentierfreude überhandnimmt. Hauptsache, am Ende ist die Welt wieder in Ordnung.
Vor 50 Jahren, am 29. November 1970, lief die erste Folge des „Tatorts": „Taxi nach Leipzig". Kommissar Paul Trimmel ermittelte wegen des Todes eines Kindes auf der Interzonenautobahn. Seitdem gehört der ARD-Krimi zum Inventar der deutschen Sehgewohnheiten. Er ist Seelenspiegel und Chronik der Zeitläufe, sozialpädagogische Therapiestunde und harter Action-Thriller – künftige Historiker werden anhand des „Tatorts" 50 Jahre bundesdeutsche Geschichte studieren können. Es kam aber auch alles vor, was die Nation bewegte: Kindesmissbrauch, Drogen, Korruption, Rassismus, Sextourismus, Homophobie, Transgender, Terrorismus, rechte Gewalt, Ausländerhass. Besonders gruselig wurde es, wenn der „Tatort" eine Geschichte zu einem Thema erzählte, das anschließend Anne Will in ihrer Talkrunde aufgriff. Volkshochschule am Sonntagabend.
Viele haben für diesen Termin sonntagabends um 20.15 Uhr ein bombenfestes Alibi. Um die neun Millionen Zuschauer lassen sich keine Folge entgehen. Wehe, es ruft jemand an in dieser Zeit. Hardcore-Fans sind sogar auf die Sendezeit festgelegt – Mediathek oder zeitversetzt sehen kommt nicht in Frage. „Tatort" gucken ist ein Ritual, Fanclubs treffen sich in Kneipen (sofern Corona es erlaubt), auf der Fanseite tatort-fans.de erfährt man alles über die aktuelle Folge, die gerade in den Dritten Programmen laufenden Wiederholungen und die nächsten Krimis. Der „Tatort" ist das letzte Lagerfeuer, das vom Fernsehen übriggeblieben ist, um das sich die Nation versammelt.
Erste Leiche nach acht Minuten
Ursprünglich sollte jede Folge einer vorgegebenen Ordnung folgen. Gunther Witte, damals Redakteur beim WDR, erhielt von seinem Vorgesetzten Günter Rohrbach 1969 den Auftrag, ein Konzept für eine Krimiserie zu entwickeln, die dem damals erfolgreichen „Kommissar" des ZDF Konkurrenz machen sollte. Der „Kommissar" ist längst vergessen, der „Tatort" inzwischen bei Folge 1.143 angelangt. Witte legte drei Kriterien fest: Regionalität, Bezug zur Gegenwart und ein Kommissar im Mittelpunkt. Komplizierte Vorschauen und Rückblenden sollten vermieden werden. In den ersten acht Minuten muss es einen Toten geben (auch heute noch) – und dann wird ermittelt: Wer der Täter und was ist sein Motiv?
Dieses Konzept wurde in vielen Folgen gesprengt. Es gab Geisterhäuser und (unechte) Vampire, Rückblenden in die Kindheit und Jugend von psychologisch angekratzten Kommissaren, „Tatorte" ohne Leiche und Exkursionen zu den Kinderhändlern in Thailand. Besonders fantasievoll erweisen sich immer wieder die „Tatorte" des Hessischen Rundfunks mit Ulrich Tukur: Eine Folge war wie ein Western gestrickt, in einer anderen mussten sich Tukur und sein Team in einer verlassenen Polizeistation gegen den Mob einer ganzen Stadt verteidigen, und einmal erlebt der Kommissar wie in dem berühmten Murmeltierfilm ein Déjà-vu nach dem anderen.
Das stößt bei den Fans nicht immer auf Gegenliebe. Regelmäßig melden sich rund 6.000 Zuschauer nach jeder Folge beim Sender oder auf der Fanseite. Manchmal mit guten Ratschlägen: Dass die Kommissare doch bitte des Umweltschutzes wegen auf Plastikbecher verzichten wollten, sie seien schließlich Vorbilder. Manchmal aber auch mit vernichtender Kritik: Kein Höhepunkt, keine Story, unwahrscheinlich und schlecht gemacht. Zwischen „der letzte Müll" über „billige Harry-Potter-Geschichte" und „echt gelungen" bis „super-spannend" schwankten zum Beispiel die Beurteilungen des jüngst gelaufenen Dresdner „Tatorts" „Parasomnia".
Wie sich in 50 Jahren die Zeiten geändert haben, sieht man nicht nur an den Dienstwagen, sondern auch an der Kleidung. Fragten die Herren Hans-Jörg Felmy, Manfred Krug, Karl Heinz von Hassel oder Peter Sodann seriös mit Anzug und Krawatte nach dem Alibi („Wo waren Sie am Freitagabend zwischen 20 und 23 Uhr?"), mischte Götz George in seiner legendären Army-Jacke nicht nur kleidungsmäßig die Serie auf. Er redete Ruhrpottdeutsch, sagte ständig „Scheiße" und ging mit Kollegen wie Verdächtigen mehr als ruppig um. Der „Tatort" war in der Gegenwart angekommen. Manches hat sich erhalten: So zieht Jörg Hartmann als Kommissar Peter Faber seinen speckigen Parka nie und unter keinen Umständen aus. Til Schweiger als Hamburger Kommissar Tschiller schlägt wie Schimanski gerne mal zu, wird aber in jeder Folge übel verprügelt. Und Dieter Bär (Kommissar Schenk) kurvt gern in seinem geliebten von der Polizei im Gangstermilieu beschlagnahmten Amischlitten zum Tatort. Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Schenk gehören zum Inventar vieler Wohnstuben, genau wie seit 25 Jahren die beiden Münchner Batic (Miroslav Nemec) und Leitmeyer (Udo Wachtveitl).
Dialekt Sprechen nur die Nebenfiguren
Die erste weibliche „Tatort"-Kommissarin war Nicole Heesters. Sie spielte 1978 Marianne Buchmüller von der Kripo Mainz, Leiterin der Mordkommission, Anfang 40, ledig und mit Peter liiert, der in Frankfurt wohnt. 1989 lief die erste Folge mit der heute „dienstältesten" Kommissarin, Ulrike Folkerts alias Lena Odenthal, alleinlebend, mit Katze und dem Halbitaliener Mario Kopper (Andreas Hoppe) an ihrer Seite. Ab 2001 gab es dann immer mehr Frauen beim „Tatort": Sabine Postel, Eva Mattes, Maria Furtwängler. Heute sind von 46 abgebildeten Ermittlerfiguren auf der „Tatort"-Website 21 weiblich. Die Ermittlerinnen wurden nicht nur zahlreicher, sondern auch immer jünger: Das neue Schweizer Team Isabelle Grandjean und Tessa Ott sieht so aus, als kämen die beiden frischen von der Uni.
In den letzten Jahren verstärkte sich ein neuer Trend: Es ging weg von den Großstädten Köln, Hamburg, Berlin, München und Leipzig und in die Provinz. Der Südwestfunk schickte das Ermittlerpaar Franziska Tobler (Eva Löbau) und Friedemann Berg (Hans-Jochen Wagner) in den Schwarzwald. In Weimar kalauern sich Lessing (Christian Ulmen) und Kira Dorn (Nora Tschirner) durch ihre außergewöhnlichen Fälle. Münster hat die Publikumslieblinge Thiel (Axel Prahl) und Boerne (Jan Josef Liefers) aufzubieten. Sie holen mit ihren witzigen, manchmal slapstickartigen „Tatorten" immer die höchsten Einschaltquoten. Und in Saarbrücken ermitteln seit neuestem zwei strenge, hochgewachsene Jungmänner, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Daniel
Sträßer als Hauptkommissar Adam Schürk kommt zwar aus dem Saarland, aber von Lokalkolorit ist zumindest in der ersten Folge nichts zu spüren. Überhaupt kommt ein wenig ortsübliche Färbung nur beim Münchner „Tatort" und den Wiener Kommissaren Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhaus) vor. Wenn einer Dialekt spricht, dann ist es höchstens der Pathologe oder ein Streifenpolizist.
Der Platz reicht nicht, um noch mehr interessante Hintergründe zu dem 50 Jahre alten Format zu schildern – etwa, wie kommen die Assistenten weg oder wer schreibt die Drehbücher. Nur noch so viel: Eine durchschnittliche „Tatort"-Folge kostet nach ARD-Angaben zwischen 1,4 und 1,6 Millionen Euro. Zum Vergleich: „Eckart Hirschhausens Quiz des Menschen" verschlingt 1,2 Millionen, die Ausgaben für Sportrechte jährlich rund 85 Millionen Euro.