Klinische Pharmazeuten der Universität des Saarlandes haben einen viel beachteten Covid-19-Simulator ins Netz gestellt, mit dem sich das Infektionsgeschehen nachahmen lässt. Politiker und Akteure im Gesundheitswesen können sich an den detaillierten Vorhersagen orientieren.
Der Appell ist unmissverständlich. Das Virus soll sich nicht weiter ausbreiten, sondern muss gestoppt werden. Dafür braucht es nicht viel: regelmäßig die Hände waschen, in die Armbeuge husten, das eigene Gesicht nicht berühren, Menschenansammlungen meiden und zu Hause bleiben. Jeder, der die Webseite des Covid-19-Simulators besucht, wird gleich an die wichtigsten Corona-Regeln erinnert. Forscher der Klinischen Pharmazie der Universität des Saarlandes haben das Modell entworfen und den Simulator online gestellt. Auf der Basis umfangreicher Daten liefert dieser präzise Simulationen zum Infektionsgeschehen für alle 16 Bundesländer und 412 Städte, Gemeinden und Landkreise. „Das Modell beruht auf einem komplexen System aus Differentialgleichungen. Selbst meinen Doktoranden versuche ich das Modell so anschaulich wie möglich näherzubringen", sagt Professor Thorsten Lehr, der das Projekt an der Klinischen Pharmazie der Universität des Saarlandes leitet und mit den Kollegen von der Virologie der Uniklinik Homburg zusammenarbeitet.
Dabei gehört es zum Tagesgeschäft der Klinischen Pharmazie, mathematische Modelle von biologischen Systemen und Arzneimitteln sowie epidemiologische Infektionsmodelle wie beispielsweise zur Übertragung von Humanen Papillomviren zu entwickeln.
Auf drohende Engpässe hinweisen
Der Arbeitskreis Pharmazie, der das Forschungsprojekt bislang ausschließlich mit eigenen personellen und finanziellen Ressourcen stemmt, will zum einen die politisch Verantwortlichen mit Blick auf anstehende Entscheidungen beraten. „Wir stehen mit der Staatskanzlei der saarländischen Landesregierung in engem Austausch", sagt der 43-Jährige. Auf Anfrage erarbeiten die Forscher um Thorsten Lehr auch Interimsanalysen für die Staatskanzlei in Saarbrücken. Außerdem will das Team der Klinischen Pharmazie Entscheidungsträger im Gesundheitswesen auf einen drohenden Engpass bei den Krankenhauskapazitäten hinweisen. „Mit unseren Simulationen mussten wir leider feststellen, dass unabhängig davon, wie stark wir ab jetzt die weitere Ausbreitung des Coronavirus stoppen können, im Dezember mindestens doppelt so viele Intensivbetten belegt sein werden wie zu Spitzenzeiten der ersten Welle", sagt Lehr. Bereits im Frühjahr während des ersten Lockdowns wirkten sich die erhöhten Infektionszahlen erst mit mehrwöchiger Verzögerung auf die Belegung der Intensivstationen aus.
Der Covid-19-Simulator ist seit August online für jeden zugänglich. Mehr als eine Million Zugriffe gab es bislang nach eigener Auskunft. „Jeder kann sich hier ausprobieren. Das Feedback war bisher positiv. Viele meldeten uns zurück, dass ihnen der Simulator geholfen habe, das Infektionsgeschehen besser zu verstehen", betont Lehr. Darüber hinaus wenden andere Bundesländer, unter anderem Niedersachsen und Berlin den Covid-19-Simulator an. Ebenfalls bekundeten schon etliche Privatpersonen und Wissenschaftler aus anderen Ländern ihr Interesse an dem Modell.
Auf FORUM-Anfrage wollte sich das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HIZ) in Braunschweig nicht zum konkreten Projekt aus dem Saarland äußern. Der Bioinformatiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am HIZ, Dr. Sebastian Binder, sagte, er halte allgemein solche Modellierungsansätze als Entscheidungshilfe für sehr sinnvoll, auch für logistische Aufgaben wie die Planung von Bettenkapazitäten. „Die Aussagekraft steht und fällt aber mit der Datenbasis", sagt Binder. Ein solches Modell habe Parameter, die kalibriert werden müssen, und dazu brauche man möglichst gute Daten. „Je detaillierter ein Modell ist, desto mehr solcher Parameter hat man und desto komplexer wird diese Kalibrierung", erklärt er. Außerdem müsse man bedenken, dass die klassischen epidemiologischen Modelle strukturelle Veränderungen nicht vorhersagen könnten, die zum Beispiel durch ein verändertes Verhalten der Bevölkerung, politische Maßnahmen oder andere externe Einflüsse ausgelöst werden. Das Modell des Helmholtz-Zentrums geht deshalb „von einer guten Vorhersagbarkeit der Entwicklung auf einem Horizont von wenigen Wochen aus", wie Binder hervorhebt. Unter www.secir.theoretical-biology.de stellt das HIZ jeweils Vorhersagen für die kommenden zwei Wochen zur Verfügung.
Zurück zum Saarbrücker Forschungsvorhaben: Der Simulator prognostiziert zukünftige Infektionszahlen, Belegungen von Krankenhausbetten, den Bedarf an intensivmedizinischer Behandlung und Beatmungsplätzen und Todesraten in allen Bundesländern. Auch simuliert das Modell verschiedene Szenarien zum Beispiel zur Aufhebung der Kontaktbeschränkungen und weiteren Lockerungen. Dazu füttern die Saarbrücker Forscher einmal in der Woche den Rechner mit neuen Daten und veröffentlichen noch am selben Tag einen Report zur Pandemie-Lage. „Die Berechnungen laufen recht lange. Das heißt, wir beginnen morgens um 6 Uhr und sind fertig gegen 16 Uhr", sagt Lehr. Gleichwohl sei die Recherche der Daten ein sehr aufwendiges Prozedere, so Projektleiter Lehr. Fortlaufend trägt das 13-köpfige Projektteam Daten vom Robert Koch-Institut, Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, von den Gesundheitsministerien der Länder und dem St. Ingberter Unternehmen Meta IT zusammen. Dabei stellt das im Saarland ansässige Unternehmen, das Softwarelösungen für Akteure im Gesundheitswesen bietet, die Daten zu 250 deutschen Krankenhäusern mit rund 10.000 Covid-19-Patienten bereit. Dieser Datensatz repräsentiere mindestens zehn Prozent der in Deutschland behandelten Covid-19-Patienten. „Wir agieren hier im datenschutzkonformen Raum und haben zu unserer Absicherung einen Ethikantrag an die saarländische Ärztekammer gestellt, der positiv beschieden wurde", erzählt der Pharmazie-Professor.
Simuliert auch diverse Szenarien
Abgesehen vom unbestrittenen Potenzial des Simulators als Entscheidungshilfe für Politik und Gesundheitswesen ist allen aber klar, dass es nicht sinnvoll ist, „sehr weit in die Zukunft zu simulieren", wie es auf der Webseite heißt. „Wenn Sie den Simulator mit einem R-Wert größer als 1 laufen lassen, dann wird irgendwann zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Bevölkerung in Deutschland infiziert und die Herdenimmunität erreicht sein", sagt Lehr voraus. Der R-Wert bestimmt dabei nur das Tempo der Durchseuchung. Für dieses Szenario könnte allerdings der Simulator falsch liegen, da es eine Dunkelziffer gibt, räumt der Pharmazie-Forscher ein. Trotzdem ist das aber ein „absurdes und unwahrscheinliches Szenario", wie er betont. „Keine Regierung und Bevölkerung würde zulassen, dass es so weit kommt. Schon allein, weil dieses Szenario mit verheerenden Verlusten einhergeht." Die Dunkelziffer der unwissentlich Infizierten sei nicht sonderlich hoch. Lehrs Einschätzung zufolge liegt diese zwischen dem Faktor drei und fünf.
Auch wenn der R-Wert in den Bundesländern mittlerweile zwischen 0,76 und 1,26 liegt (Stand: 25. November, Bericht/Covid-19-Simulator), gibt das Saarbrücker Forscherteam noch lange keine Entwarnung. Würde der bundesweite R-Wert auf 0,8 sinken, müsste man an Weihnachten immer noch mit einer Sieben-Tages-Inzidenz von 80 Fällen pro 100.000 Einwohnern rechnen, so die Vorhersage. Nach wie vor ist die Pandemie-Lage sehr angespannt, denn im ganzen Bundesgebiet ist nicht mit einem schnellen Erreichen der Sieben-Tages-Inzidenz unter die Warnmarke von 50 Neuinfektionen zu rechnen. In der Zeit des ersten Lockdowns sei „deutlich weniger getestet" und „nur die auffälligsten und schwersten Fälle", sagt Lehr. Auch stelle man fest, dass der Altersdurchschnitt der Infizierten deutlich sinkt. „Vor allem die Über-60-Jährigen werden zurzeit vermehrt angesteckt", berichtet Lehr. Deshalb müsse man jetzt diese Altersgruppe besser schützen. Vermehrt registrierten die Klinischen Pharmazeuten allerorten Krankenhauseinweisungen vornehmlich von Männern, die zudem häufiger sterben, und eine höhere Positivrate. Das Zwischenfazit zum Lockdown light fällt denn auch vorsichtig optimistisch aus: Zwar war die Maßnahme richtig, um das Infektionsgeschehen einzudämmen. Doch Thorsten Lehr stellt klar: „Die Vollbremsung hat eine bessere Wirkung als das langsame Ausrollenlassen."