Viele Menschen werden von Zukunftsängsten geplagt. Der Zukunftsforscher Stefan Bergheim erklärt, wie man einen entspannten Umgang mit dem Kommenden findet.
Herr Bergheim, wagen wir einen Blick in die Kristallkugel: Wie wird Deutschland im Jahr 2040 aussehen?
Ich setze mich zwar intensiv mit der Zukunft auseinander. Die Zukunft vorauszusagen, gehört aber nicht zu meinen Kompetenzen. Ich beschäftige mich hauptsächlich mit der Frage, wie sich die Lebensqualität der Menschen verbessern lässt. In meiner Tätigkeit als Politik- und Unternehmensberater rege ich die Menschen dazu an, über ihre Lebensentwürfe, ihre Zukünfte nachzudenken. Ich spreche absichtlich von Zukünften – statt von der Zukunft.
Viele Menschen haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren, blicken stattdessen mit Sorge in die Zukunft. Woher kommt diese weitverbreitete Zukunftsangst?
Viele Menschen haben begriffen, dass das, was heute richtig ist, morgen vielleicht schon falsch ist. Das schafft ein diffuses Gefühl von Unsicherheit. Wie soll ich mich als junger Mensch für eine Ausbildung oder einen Beruf entscheiden, wenn ich nicht sicher sein kann, dass ich das, was ich heute erlerne, auch in zehn Jahren noch anwenden kann?
Wie treffe ich trotz Unsicherheit die richtige Entscheidung?
Eine Entscheidung ist dann die richtige, wenn sie nicht nur für eine Zukunft, sondern in unterschiedlichen Zukünften Bestand hat. Was ich damit meine: Stellen Sie sich vor, Sie stünden am Beginn Ihres Berufslebens. Sie möchten Journalist werden. Stellen Sie sich eine Zukunft vor, in der es keine Zeitungen mehr gibt, kein Fernsehen, kein Radio, keine unabhängigen Nachrichten im Internet. Wie sähe dann Ihre Zukunft aus? Gäbe es Alternativen? Könnten Sie auch ohne Medium als Journalist tätig sein?
Eine solche Zukunft möchte ich mir lieber nicht ausmalen.
Solche Gedankenspiele sind sehr nützlich. Man beginnt, sich ernsthafte Gedanken über Alternativen zu machen für den Fall, dass es mit dem Traumberuf nicht klappen sollte. Als ehemaliger Prognostiker bei der Deutschen Bank habe ich eines gelernt: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Deshalb ist es auch so entscheidend, alternative Szenarien zu entwerfen, um in jeder Situation handlungsfähig zu bleiben. So hält man sich viele Handlungsoptionen offen, egal was kommt.
Sie sprechen von mehreren Szenarien, in Ihren Worten ausgedrückt: von Zukünften. Weshalb reicht ein Plan B nicht aus?
In einer komplexen Welt reicht das nicht. Alles und jeder ist irgendwie miteinander verhängt und voneinander abhängig. Die Welt ist dadurch ein Stück weit störungsanfälliger geworden, weil die kleinste Veränderung das Potenzial hat, eine Kettenreaktion auszulösen. Das ist der berühmte Schmetterlingseffekt. Damit ist die Unvorhersehbarkeit von langfristigen Auswirkungen gemeint. Ein aktuelles Beispiel ist die Corona-Pandemie. Die Zerstörung des Regenwalds wird mit dem Ausbruch von Pandemien in Verbindung gebracht, weil die Gefahr von Zoonosen – das sind Infektionskrankheiten die von Tieren auf den Menschen übertragen werden – dadurch zunehmen können.
Die Fähigkeit zur Antizipation, die Vorbereitung auf alle möglichen Eventualitäten, ist eine Kunst, die nur wenige beherrschen. Weshalb fällt es vielen Menschen so schwer, in Szenarien zu denken?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es setzt natürlich eine gewisse intellektuelle Beweglichkeit voraus. Viele Akteure in Wirtschaft und Politik haben leider wenig Anreize, sich mit den längerfristigen Folgen ihres Handelns auseinanderzusetzen. Ihr Zeithorizont ist eher begrenzt.
In Ihrem Buch legen Sie dar, welchen Einfluss der gesellschaftliche Dialog auf die Politik und letztlich auf unsere Lebensqualität hat. Müssen wir mehr miteinander reden, um ein besseres Leben führen zu können?
Im Kern geht es um eine ganz einfache Frage: Was will ich? Was willst du? Hier haben die skandinavischen Länder uns viel voraus. Dort ist die Lebensqualität sehr hoch, die Menschen sind glücklicher als hierzulande. Das hat im Wesentlichen damit zu tun, dass dort die Fähigkeit, miteinander über Probleme zu sprechen und dabei unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen, deutlich stärker ausgeprägt ist als in Deutschland. Es geht um das Erkennen und Nutzen kollektiver Intelligenz als Ressource. Das ist die Basis für gute, zukunftsfähige Entscheidungen.
In Deutschland vermissen Sie einen solchen intensiven Dialog zwischen der Bevölkerung und den politischen Institutionen. Hätte die Corona-Pandemie einen anderen Verlauf genommen, wenn man frühzeitig über die Gefahr einer Pandemie öffentlich debattiert hätte?
Im Nachhinein ist man immer schlauer. Dennoch: Die Regierungen hätten sich besser darauf vorbereiten können, schließlich haben Experten schon vor Jahren vor einer Pandemie gewarnt. Alle Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Mit relativ geringem Aufwand hätte man einen größeren Vorrat an Masken und Beatmungsgeräten anlegen können. Oder schauen Sie sich das Bildungswesen an. Ich bin Vater von zwei schulpflichtigen Kindern. In Sachen Digitalisierung und Fernunterricht herrscht in den Schulen eine Totalblockade, weil zwischen Ministerien, Schulleitung, Lehrern und Eltern kein konstruktiver Dialog in Gang kommt.
In welchen Ländern macht man es besser?
In den skandinavischen Ländern. In Schweden zum Beispiel redet man einfach miteinander, ohne vorher lange über Verfahrensfragen zu diskutieren. Probleme werden pragmatisch gelöst. Dort ist das eine geübte und erfolgreiche Praxis.
Was sind Ihre Vorschläge, um den gesellschaftlichen Dialog in Deutschland zu fördern?
Ein gutes Beispiel war der Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin 2011/12, an dem ich als Leiter einer Arbeitsgruppe mitwirken durfte. Wir entwickelten zahlreiche Ideen und Visionen für mehr Lebensqualität. Einige Vorschläge sind in den Koalitionsvertrag 2013 eingeflossen. Auf lange Frist wird man aber um eine Reform beziehungsweise eine Ausweitung der parlamentarischen Demokratie nicht herumkommen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen stärker in den politischen Entscheidungsprozess einbezogen werden. Wir brauchen auf allen Ebenen vielfältige Gelegenheiten bei denen sich die Menschen zu wichtigen Fragen austauschen können, idealerweise gemeinsam mit den Entscheidungsträgern. Für den sozialen Zusammenhalt und die Entwicklung gemeinsamer Visionen ist das alternativlos.