Seit 20 Jahren hält nun schon die Diskussion um die Etablierung einer neuen geologischen, auf den Namen Anthropozän getauften Epoche an. Befürworter schlagen dafür die 1950er-Jahre als Starttermin vor.
Was das Periodensystem der Elemente für die Chemiker ist, ist die geologische Zeitskala für die Geowissenschaftler. Genauer gesagt für die Stratigraphen, die anhand von global und synchron in den Sedimenten nachweisbaren Veränderungen die grundlegenden Wechsel in der Erdgeschichte erforschen und eine verbindliche Abfolge der Zeitalter/Ären, Perioden und Epochen vornehmen. Letzteres ist ein mühsames und zeitaufwendiges Unterfangen, das weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit abläuft. Als Basisinfo reicht es, sich bewusst zu machen, dass wir derzeit in der vor 65 Millionen Jahren begonnenen Ära der Erdneuzeit, dem Känozoikum, leben, das in die Perioden des Tertiär und des Quartär eingeteilt ist, die beide wiederum in verschiedene, aus erdgeschichtlicher Sicht vergleichsweise kurze Epochen gegliedert sind. Von diesen leben wir in der jüngsten Zeitspanne namens Holozän als Nachfolger des Pleistozäns.
Erst im Jahr 2008 wurde der Beginn des Holozäns verbindlich durch die international ranghöchste geologische Gesellschaft, die International Union of Geological Sciences IUGS), abgesegnet, nachdem auch deren fast ebenso mächtige wissenschaftliche Unterorganisation namens International Commission on Stratigraphy (ICS) in ihrer Funktion als Wächterin der geologischen Zeitskala ihr Okay gegeben hatte. Seitdem wird die Grenze zwischen Pleistozän und Holozän auf den Zeitraum von vor rund 11.700 Jahren datiert, festgemacht an einem in Nordgrönland in einer Tiefe von 1.492 Metern geborgenen Eisbohrkern, der in seinen Schichten drastisch veränderte Isotopenwerte auswies, was als klarer Beleg für einen schnellen Temperaturanstieg und damit für das Ende der letzten Eiszeit gedeutet wurde. Für jedes der historischen Intervalle auf der geologischen Zeitskala wird von der ICS ein solcher Marker oder sogenannter Golden Spike für grundlegende Veränderungen in der Erdgeschichte verlangt. Die geologische Zeitskala wird von IUGS und ICS gleichsam wie der heilige Gral gehütet, was bei der ihr zu Grunde liegenden Mammutarbeit auch kein Wunder sein dürfte. „Die geologische Zeitskala ist in meinen Augen die größte Errungenschaft der Menschheit", so der Geographie-Professor Michael Walker von der University of Wales im britischen Lampeter.
Zeitalter des Menschen
Wer an diesem Zeitskala-Gerüst zu rütteln wagt, wird daher mit reichlich Widerstand seitens der beiden maßgeblichen Stratigraphie-Organisationen zu rechnen haben. Dennoch haben sich im Verlauf der letzten 20 Jahre eine Reihe von Wissenschaftlern aus aller Welt in einer interdisziplinären Forschungsgruppe zusammengetan, um eine neue Epoche der Erdgeschichte namens Anthropozän zu propagieren, weil aus ihrer Sicht längst nicht mehr die Natur wie im Holozän allmächtig ist, sondern weil der Mensch zur treibenden geologischen Kraft auf der Erde geworden ist. Der Anthopecene Working Group gehören derzeit 40 Mitglieder an, die versuchen, eine neue, auf das Holozän folgende (abgeleitet aus dem Altgriechischen und sinngemäß „das ganz Neue" im Vergleich zur vorhergehenden Epoche des Pleistozän beschreibend) und unsere Gegenwart viel besser widerspiegelnde Epoche zu etablieren. Denn der Einfluss des Menschen auf Erde und Umwelt sei im Anthropozän („anthropos" = „Mensch", also sinngemäß „das ganz Neue vom Menschen Gemachte") global nachweisbar und teils sogar nicht mehr umkehrbar.
Die Idee vom Zeitalter des Menschen ist keineswegs ganz neu, schon Mitte des 19. Jahrhunderts war in Geologenkreisen erstmals darüber debattiert worden. Doch erst dank der Autorität von Prof. Paul Crutzen, dem renommierten niederländischen Meteorologen, Atmosphärenchemiker und Chemie-Nobelpreisträgers des Jahres 1995, sollte die Anthropozän-Diskussion in der Wissenschaft so richtig Fahrt aufnehmen. Im Jahr 2000 prägte er den Begriff Anthropozän durch einen Zwischenruf auf einem Wissenschaftssymposium: „Wir sind nicht mehr im Holozän. Wir sind im Anthropozän." Prof. Crutzen vertrat dabei die Meinung, dass das Anthropozän schon mit Einsetzen der Industriellen Revolution im späten 18. Jahrhundert begonnen habe. Danach habe die Menschheit für ein Loch in der Ozonhülle über der Antarktis gesorgt, für eine Verdoppelung der Methan-Menge in der Atmosphäre und für eine Erhöhung der CO₂-Konzentration um 30 Prozent, was es in den vorherigen 400.000 Jahren nicht gegeben habe.
Mit seinem Anthropozän-Vorstoß konnte Prof. Crutzen eine ganze Reihe renommierter Wissenschaftler überzeugen, die angeführt vom britischen Paläbiologen Prof. Jan Zalasiewicz von der University of Leicester 2009 sogar die ICS dazu bewegen konnten, zumindest eine Anthropozän-Arbeitsgruppe unter Leitung von Prof. Zalasiewicz zur Überprüfung der Crutzen-Hypothese ins Leben zu rufen. Seitdem hat die Arbeitsgruppe diverse Studien vorgelegt, um vor allem zu klären, wann der Beginn des Anthropozäns anzusetzen sein könnte, welche aktuellen Hinterlassenschaften, beispielsweise Plastikablagerungen in den Meeren oder radioaktive Nuklide aus Kernwaffentests im Boden, künftigen Generationen exakten Aufschluss über den Start der wichtigsten menschengemachten Veränderungen der Natur geben könnten, womit letztendlich auch die Suche nach dem Golden Spike in den Forschungsmittelpunkt gerückt wurde.
Im Sommer 2020 zogen Prof. Zalasiewicz und sein Nachfolger im Vorsitz der Anthropozän-Arbeitsgruppe Prof. Colin Waters von der University of Leicester im Interview mit der österreichischen Tageszeitung „Der Standard" Bilanz über ihre bisherigen Erkenntnisse. Demnach schlagen sie als Beginn des Anthropozäns die 1950er-Jahre vor und als Golden Spike die Plutonium-Ablagerungen im Sediment aufgrund der Kernwaffentests in den Jahren zwischen 1952 und 1963. „Plutonium ist derzeit am aussichtsreichsten", so Prof. Waters. „Aber wir sehen uns auch Kohlenstoffisotope oder Spuren durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe, Kunstdünger oder Plastik an." Trotz teils heftigen Widerstands innerhalb der eigenen Zunft, sahen sich die beiden Wissenschaftler doch auf dem richtigen Weg. „Als wir begonnen hatten, die Mitte des 20. Jahrhunderts für den Beginn des Anthropozäns in Betracht zu ziehen", so Prof. Waters, „hat plötzlich alles zusammengepasst. Es sind zu dieser Zeit Dinge auf der Welt passiert, die sich in Gesteinsschichten niedergeschlagen haben – ziemlich genau zur selben Zeit rund um die Welt. Als Plastik in den 1950er-Jahren eingeführt wurde, verbreitete es sich rasch auf der ganzen Welt. Dasselbe gilt für Beton oder Pestizide. Viele dieser Veränderungen sind irreversibel, es gibt also keinen Weg zurück ins Holozän."
Völlig in den Sternen steht allerdings, ob der Vorschlag zur Etablierung einer Anthropozän-Epoche von den zuständigen Gremien IUGS und ICS jemals akzeptiert werden kann, er soll jedenfalls möglichst auf dem nächsten für 2024 oder 2025 geplanten internationalen Geologischen Kongress auf die Tagesordnung gesetzt werden.