Läuft alles normal, findet Olympia mit einem Jahr Verspätung statt – vielleicht sogar mit Zuschauern. Der Impfstoff sorgt für große Zuversicht in der Sportfamilie, doch in Japan ist von Vorfreude nichts zu spüren.
Seit 1998 sitzt Thomas Bach an der Spitze des Aufsichtsrats der Michael Weinig AG, einem der Weltmarktführer für Holzverarbeitungsmaschinen. Vielleicht erinnerte er sich daran, als er während seines dreitägigen Japan-Besuchs in die Rolle des Handwerkers schlüpfte und den Rettungsplan für die Olympischen Spiele in Tokio bildlich veranschaulichte. Man stelle gerade einen „riesigen Werkzeugkasten" zusammen, sagte Bach, und im kommenden Jahr werde man dann „das geeignete Werkzeug aus dieser Kiste" holen. Je nach Corona-Lage werden die Hygiene-Maßnahmen streng oder weniger streng ausfallen, das wirkungsvollste Werkzeug soll aber verschlossen bleiben: die endgültige Absage. Man sei „voll entschlossen, die Olympischen Spiele 2021 und die Paralympischen Spiele im nächsten Sommer hier in Tokio zu einem großen Erfolg zu machen", sagte der IOC-Präsident nach einem Treffen mit dem japanischen Ministerpräsidenten Yoshihide Suga Mitte November. Es war das erste Mal, dass der 66-Jährige nach Japan gereist war, seit er und die anderen Herren der Ringe sich im Frühjahr nach langem Zögern für eine Absage der Austragung im Sommer 2020 entschieden hatten. Bach traf nicht nur die politische Führungsebene, er besichtigte auch das Olympische Dorf und sprach mit Athleten und Leuten aus dem Organisationskomitee (OK). Immer mit Abstand, immer mit Maske. Sieben Monate vor dem Startschuss der Spiele (23. Juli bis 8. August) ist Corona noch immer allgegenwärtig. Doch gerade deswegen müsste das größte aller Sportevents auch stattfinden, findet Bach: „Zusammen können wir diese Olympischen Spiele und die olympische Flamme zum Licht am Ende des Tunnels machen." Für Japans Regierungschef Suga werde Olympia nicht weniger als „der Beweis, dass die Menschheit das Virus besiegt hat". OK-Chef Yoshiro Mori spricht sogar von einem „Muss für die Menschheit". Und Präsident Andrew Parsons vom Internationalen Paralympischen Komitee hofft, dass das „schreckliche Jahr 2020" auch dank Olympia durch ein neues „Jahr der Hoffnung" abgelöst werde.
„Der Beweis, dass die Menschheit das Virus besiegt hat"
So viel zur Schau gestellte Zuversicht ist natürlich kein Zufall. Die Aussicht auf eine baldige Zulassung von wirksamen Impfstoffen gegen das Coronavirus haben auch die Olympia-Macher freudig und optimistisch gestimmt. Der Profisport hat in den vergangenen Monaten bewiesen, dass Events mit einem stringenten Hygienekonzept ohne große Risiken für die Beteiligten durchgeführt werden können. Eine Absage von Olympia stand daher eigentlich auch nicht mehr zur Debatte, auch wenn mögliche Geister-Spiele völlig konträr zur Idee des Sportfestes der Jugend stehen. Der Impfstoff gibt nun Hoffnung auf ein relativ „normales" Olympia. „Das beste Szenario wären sichere Spiele mit Athleten aus aller Welt und mit maximaler Zuschauerzahl", sagte Yuriko Koike, Gouverneurin der Gastgeberstadt Tokio. Um dies zu bewerkstelligen, „werden wir umfassende Maßnahmen gegen das Virus ergreifen". Die Rede ist von Strategiepapieren, an denen sich die Stakeholder orientieren sollen. Darin werden Maßnahmen aufgenommen, die dem Schutz der Athleten und der japanischen Bevölkerung dienen. Letzteres wird immer wieder betont, denn die Unterstützung der Japaner für das einst umjubelte Prestigeprojekt ist auf einem Tiefpunkt angelangt.
Auch im Land der aufgehenden Sonne steigen die Corona-Fallzahlen wieder, die 127 Millionen Einwohner müssen überall Maske tragen. Sogar ein zweiter Lockdown droht, die Wirtschaft schwächelt schon jetzt – da ist das größte und zugleich auch teuerste Sportfest der Welt für viele eher ein Ärgernis als ein Hoffnungsschimmer. Die Kosten sind nicht erst durch die Verschiebung explodiert, der Steuerzahler muss es ausbaden. In fast allen Umfragen spricht sich die Mehrheit der Japaner gegen eine Austragung aus. Selbst unter den Unternehmern, die bei der Vergabe der Spiele noch euphorisch ihre Unterstützung zugesichert hatten, nimmt die Skepsis zu. Von den inländischen Sponsoren haben 60 Prozent (Stand: Ende November) ihren Vertrag noch nicht bis 2021 verlängert. Japan befürchtet, auf einem Milliardengrab sitzen zu bleiben – und das nicht ganz zu Unrecht. Das OK will zwar erst Ende des Jahres ein neues Gesamtbudget vorlegen, doch nach Angaben der japanischen Nachrichtenagentur Kyodo verursacht alleine die Verlegung um ein Jahr Kosten in Höhe von 1,6 Milliarden Euro. Schon vorher fiel das Budget um ein Vielfaches höher aus als ursprünglich geplant, also setzt die Regierung den Rotstift an: 240 Millionen Euro sollen gespart werden, durch weniger Personalkosten, weniger Feierlichkeiten und Dekorationen der Sportstätten.
Verlegung kostet 1,6 Milliarden Euro
Kleiner, abgespeckter und preiswerter –war es nicht genau das, was das IOC mit Bach an der Spitze bei der Agenda 2020 im Sinn hatte? Spötter behaupten, was die Funktionäre in vielen Jahren nicht bewerkstelligt bekamen, nämlich die Abkehr des Gigantismus’, schaffte Corona innerhalb kürzester Zeit. Einsparungen „werden nötig sein", betonte Tokios Gouverneurin Koike, „damit wir die Empathie und das Verständnis der Öffentlichkeit gewinnen". Auch die Athleten müssen die Olympia-Macher mit ins Boot holen. Die wenigsten von ihnen sind vom Olympia-Traum noch so beseelt, dass sie die Gefahren und die persönlichen wirtschaftlichen Folgen ignorieren. Die Verschiebung sorgte auch für ein Qualifikations-Chaos, die genaue Vergabe der Tokio-Tickets ist in vielen Sportarten noch immer mit großen Unsicherheiten verbunden. Das IOC stockte die Unterstützung der Nationalen Olympischen Komitees um 16 Prozent auf knapp 500 Millionen Euro auf, die der Athletenprogramme sogar um satte 25 Prozent. Auch für die physische Sicherheit vor Ort soll viel Geld in die Hand genommen werden. „Die Athleten müssen Vertrauen in die Sicherheit haben", sagte IOC-Vizepräsident John Coates. Deshalb wolle man das olympische Dorf zum „sichersten Ort in Tokio" machen. Ein ambitioniertes Ziel, das sicherlich leichter zu erreichen sein wird, wenn alle Teilnehmer bis dahin gegen Corona geimpft sind. „Ich gehe davon aus, dass viele Sportler das machen werden", sagte der frühere Speerwurf-Weltmeister Johannes Vetter. Eine Impfpflicht, die in Athletenkreisen immer wieder diskutiert wurde, ist aber nicht vorgesehen. „Nein", sagte Bach dazu, „das geht zu weit." Die juristischen Auseinandersetzungen scheut das IOC, das jedoch eine klare Impfempfehlung an seine Sportler aussprechen will. Und noch mehr: Der Ringeorden will selbst Impfstoffe ordern und „Athleten und den übrigen Beteiligten zur Verfügung stellen", wie Koike kürzlich verriet. „Das hat mich beeindruckt."
18 Testwettkämpfe im Frühjahr
Die Spiele müssen aus Sicht des IOC in diesem Sommer stattfinden, eine erneute Verschiebung gibt der Terminkalender nicht mehr her. Das IOC muss Sponsoren- und TV-Verträge erfüllen – und dabei offenbar schon jetzt einen Preisnachlass gewähren. Laut Medienberichten soll das US-Netzwerk NBC, das für die Rechte an den Spielen 2014 bis 2020 insgesamt 3,7 Milliarden Euro bezahlt hatte, von einem im Vertrag verankerten „Right of Abatement" Gebrauch machen wollen. Demnach dürfte die Zahlung reduziert werden, um wie viel genau, soll jedoch erst nach dem Ende der Sommerspiele in Tokio verhandelt werden. Umso wichtiger ist, dass im kommenden Sommer das Event ohne größere Probleme durchgezogen werden kann. Dafür haben die Organisatoren für das Frühjahr sogar eine Art Testlauf ins Leben gerufen: Bei der Serie von 18 Testwettkämpfen werden unterschiedlichste Szenarien geprobt. Mal mit ausländischen Athleten, mal ohne – die technischen Abläufe sollen erprobt und mit den jeweiligen Hygienemaßnahmen in Einklang gebracht werden. Schon Anfang November wurde in Tokio ein internationales Turnturnier organisiert – das allerdings mit sehr strengen Auflagen. Die werden wohl auch im kommenden Sommer obligatorisch sein. „Das ist dann halt so", sagte Speerwerfer Vetter, „dann muss man das Olympiasieger-Bier eben allein mit dem Trainer trinken."
Bis zum kommenden Sommer wird der Impfstoff das Coronavirus nicht besiegt haben, umgekehrt das Virus aber auch nicht Olympia. „Als Symbol für die Widerstandsfähigkeit der Menschheit und die globale Einheit bei der Überwindung von Covid-19 loben wir Japans Entschlossenheit, die Olympischen und Paralympischen Spiele auszurichten", ließen die G20-Staaten kürzlich in einer Pressemitteilung verlauten.
Sollten die Sommerspiele stattfinden, und dann vielleicht auch noch vor Zuschauern, könnte Thomas Bach das als großen Erfolg werten, nachdem er für sein Zögern bei der Verschiebung noch kritisiert worden war. Schon jetzt ist der Weg für eine zweite Amtszeit für ihn frei, bei der Präsidentenwahl während der IOC-Session im März in Athen hat sich nur ein Kandidat offiziell angemeldet: Bach. „Ich fühle mich geehrt und verspüre Demut darüber, dass es keinen anderen Kandidaten gibt", teilte der frühere Fecht-Olympiasieger mit. Der erste Deutsche an der Spitze des Ringeordens versteht die Funktionärsarbeit wie kein Zweiter, doch außerhalb des IOC kam auch immer wieder Kritik an seiner vermeintlich laschen Haltung in politischen Fragen auf. Über seine Qualitäten als Handwerker ist bislang noch nichts überliefert.