Das Radio hat in 100 Jahren mal als Propaganda-Instrument gedient und mal als Stimme der Revolution. Bis heute ist es ein eigenständiges Medium geblieben, das sich auch das Internet erobert hat. Noch bis August kommenden Jahres ist in Berlin die Ausstellung „ON AIR. 100 Jahre Radio" zu sehen.
Es begleitet uns beim Frühstück und sagt uns im Auto, wo sich der Verkehr staut. In diesen reizlosen Corona-Zeiten, in denen kein öffentliches Konzert, kein Theater auf uns wartet, hilft es uns, den Kulturverlust zu ertragen. Es ist immer gut informiert, spielt je nach Sendervorwahl mal Jazz, Klassik oder Pop und ist rund um die Uhr verfügbar. Das Radio in Deutschland – es wird in diesem Jahr hundert Jahre alt. Und es ist von keinem der anderen Medien verdrängt worden – dem Fernsehen nicht und auch vom Internet und seinen Möglichkeiten nicht. In Deutschlands Haushalten stehen laut Digitalisierungsbericht der Landesmedienanstalten immer noch rund 146,4 Millionen Radiogeräte. Insgesamt gibt es 449 Radiosender in Deutschland. Davon sind 74 öffentlich-rechtliche Sender, die anderen sind privat.
Der erste Sender stand in Königs Wusterhausen südlich von Berlin. Am 22. Dezember 1920 übertrug die Reichspost ein Weihnachtskonzert. Diese Übertragung gilt als die Geburtsstunde des öffentlichen Rundfunks in Deutschland. Der 210 Meter hohe Sendemast steht heute noch. Anfangs wurde er militärisch genutzt. Später diente er zum Übertragen von Wirtschaftsnachrichten, für die man Gebühren zahlen musste. Wer hören wollte, musste damals zahlen. Die ersten echten Rundfunksendungen mit Sprache und Musik waren das erwähnte Weihnachtskonzert und das Osterkonzert am 23. März 1921. Weil das beim Publikum gut ankam, begann die Post regelmäßig Sonntagskonzerte auszustrahlen, die auf die Eigeninitiative der Postbeamten zurückgingen: Sie spielten die Musik auf ihren privaten Instrumenten.
Wie so oft war der Krieg der „Vater aller Dinge". 1886 hatte Heinrich Hertz die elektromagnetischen Wellen entdeckt. 1900 meldeten sowohl Nikola Tesla als auch Guglielmo Marconi die ersten Patente zur drahtlosen Funktechnik an. Zeitgleich legte Ferdinand Braun mit der Braun’schen Röhre die Grundlagen zu ihrer technischen Umsetzung. Im Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Funktechnologie rasant weiter. Sie wurde zu einem unverzichtbaren Bestandteil moderner Militärführung, Zehntausende Soldaten wurden zu Funktechnikern ausgebildet. Im Revolutionsjahr 1918 versuchten Spartakisten mithilfe dieser Funker die Kontrolle über das Radio zu erobern, „Funkerspuk" nannte sich die letztlich erfolglose Aktion. Jetzt erst reagierte die SPD-Reichsregierung und verschärfte die Kontrolle über das junge Medium: Ab 1919 galt ein Hoheitsrecht des Reiches zur Einrichtung und zum Betrieb von Sende- und Empfangsanlagen. Der allgemeine Empfang von Funksendungen wurde auf eigens dafür vorgesehene Geräte beschränkt, die von der Post plombiert wurden (aufgehoben 1923). Und man führte eine Rundfunkgebühr ein.
Erstes im Radio übertragene Länderspiel war am 18. April 1926
Der erste offizielle Radiosender Deutschland hieß „Die Deutsche Stunde" und sendete ab dem 29. Oktober 1923 aus dem Vox-Haus am Potsdamer Platz. Zum Abschluss des Programms wurde stets die Nationalhymne gespielt. Ein halbes Jahr nach der ersten Sendung lauschten bereits 100.000 Hörer. Ende der 1920er-Jahre wurden dank neuer Fertigungsmethoden besonders Röhrenradios deutlich preiswerter. Das erste weitverbreitete Gerät im deutschsprachigen Raum war der Ortsempfänger OE333 der damaligen Loewe-Audion GmbH in Berlin-Steglitz.
Das Radio hatte seinen Platz gefunden: Das erste per Rundfunk verfolgbare Fußballländerspiel war die Begegnung zwischen Deutschland und den Niederlanden am 18. April 1926 in Düsseldorf. Ebenfalls 1926 wurde der Funkturm in Berlin eingeweiht. Im selben Jahr ging die Deutsche Welle auf Sendung, die später in Deutschlandsender umbenannt wurde. Die Schriftsteller entdeckten das neue Medium. Alfred Döblin begrüßte das Radio als „Stimme des Volkes". Bertolt Brecht stellte in seiner Radiotheorie die These auf: „Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens (…) wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen." Es sollte noch lange dauern, bis sich die Medien dahin entwickelten, dass der Hörer oder Zuschauer sich selbst zu Wort melden konnte.
Zunächst wurde das Radio zu einem Instrument zur Massenmanipulation. Die Nationalsozialisten nutzten es unmittelbar nach ihrer Machtergreifung für ihre Zwecke und schalteten den Rundfunk im Deutschen Reich gleich. Propagandaminister Joseph Goebbels verglich den Rundfunk mit der Erfindung des Buchdrucks und schwärmte von seiner „revolutionären Bedeutung." Um alle Bevölkerungsschichten mit der nationalsozialistischen Propaganda effektiver zu erreichen, wurde 1933 der Volksempfänger entwickelt. Das Gerät kostete etwa halb so viel wie die bis dahin in Deutschland erhältlichen Radios. Es war einfach konstruiert und wurde zu einem Preis von 76 Reichsmark verkauft. Das entspricht inflationsbereinigt in heutiger Währung 349 Euro. Mit dem Slogan „Ganz Deutschland hört den Führer mit dem Volksempfänger" vermarktete die Regierung das Gerät mit dem Namen VE 301 (Datum der nationalsozialistischen Machtergreifung, 30.1.).
Der Volksmund nannte es „Goebbels-Schnauze". Eine Sendervoreinstellung gab es nicht, man konnte mit dem VE 301 auch andere Sender empfangen, aber nur in schlechter Qualität. Die Hörerzahlen stiegen von rund vier Millionen Anfang 1932 auf über zwölf Millionen Mitte 1939. Trotz dieses Erfolgs lag die Rundfunkempfangsdichte in Deutschland bei nur 46,9 Prozent und damit weit unter der in den USA (78,3 Prozent) und Großbritannien (66,1).
Alliierte hatten nach ’45 die Rundfunkhoheit
Schon ab 1933 begannen die Nazis, Hörer ausländischer Sender zu verfolgen. Wer mit Radio Moskau ertappt wurde, wurde in Konzentrationslager geworfen. Die BBC strahlte ab 1938 ein deutschsprachiges Programm aus, das immer wieder von Störsendern unterdrückt wurde. 1939 führte Goebbels den Tatbestand des „Rundfunkverbrechens" ein: Vom 1. September 1939 an, dem Tag des Beginns des Überfalls auf Polen, wurde im Deutschen Reich das Verbreiten der Nachrichten von abgehörten Feindsendern unter Strafe gestellt. Auch das Abhören von Radiosendern neutraler und mit Deutschland verbündeter Staaten war verboten. Übrigens: Der Krieg mit Polen begann mit einem fingierten Anschlag auf den Rundfunk. Deutsche Soldaten in polnischer Uniform griffen den Reichssender Gleiwitz an.
Der Zweite Weltkrieg spielte sich auch im Hörfunk ab. Im „Krieg der Radiowellen" setzten die Briten und die Sowjets leistungsstarke Kurzwellensender ein, die den Kriegsgegner aufklären, desinformieren oder einfach nur moralisch schwächen sollten. Tarnsender sendeten „schwarze Propaganda", manchmal so geschickt gemacht, dass die Falschmeldungen unter einer Flut von korrekten Nachrichten versteckt wurden.
Nach und nach verstummten gegen Kriegsende die deutschen Sender. Am 7., 8. und 9. Mai 1945 verkündete der letzte intakt verbliebene Reichsender Flensburg im Namen der geschäftsführenden Reichsregierung die bedingungslose Kapitulation.
Nach dem Krieg lag die Rundfunkhoheit in den Händen der Alliierten. Die Sowjets hatte eine klare Vorstellung von den Aufgaben des Radios: Seit 1943 sendeten sie bereits permanent im Rahmen der psychologischen Kriegsführung, 1945 traten bereits ausgebildete Kader an, um die Sendeanlagen im Osten Deutschland wieder zu aktivieren. In einer Blitzaktion beschlagnahmte die sowjetische Besatzungsmacht in ihrer Zone alle Rundfunkgeräte mit mehr als drei Röhren. Damit blieb den Hörern nur der Empfang des von der Besatzungsmacht zensierten Deutschlandsenders. Nur bestimmte Politiker und Beamte durften leistungsfähigere Geräte behalten, um spezielle Nachrichtensendungen aus dem nicht sowjetisch kontrollierten Gebiet zu empfangen.
Mit der Gründung der DDR 1949 ging der Rundfunk komplett an die Staatspartei SED über. Im Gegensatz zum Westen, wo eine dezentrale Rundfunkstruktur entstand, setzte die DDR auf Zentralismus. Erst 1964 gab es eine Lockerung im Rundfunksystem der DDR: Zum „Deutschlandtreffen der Jugend" 1964 in Ost-Berlin startet der DDR-Rundfunk sein Jugendprogramm DT64, 1968 wird es zum gleichnamigen Sender. Zusehends politischer und kritischer begleitet er die ostdeutsche Jugend durch die Wendezeit bis 1993.
Die Briten riefen 1945 einen Sender in Hamburg ins Leben, die Franzosen einen in Koblenz. Legendär wurde später der Rundfunk im Amerikanischen Sektor (Rias), er sendete für die Westzonen, war aber in der gesamten DDR zu empfangen. Er begleitete den Aufstand des
17. Juni 1953, den Ungarn-Aufstand und den Mauerbau. Die DDR bewertet den Rias als westliches Propagandainstrument, stellte das Hören des Senders unter Strafe und störte ihn systematisch.
Populär wurden aber vor allem die Soldatensender der US-Army: Sie brachten die aufregende neue Musik ins Land, Twist, Rock’n’Roll, Big Band Jazz. Die britische Besatzungsverwaltung begann 1945 damit, mehr und mehr Kompetenzen an die deutschen Mitarbeiter des NWDR abzugeben. Der deutsche Dienst der BBC übernahm ab November 1945 die Aufgabe der Umerziehung und Propaganda gegen die Sowjets. Die Franzosen legten den SWF (Südwestfunk) als einheitlichen Sender mit kleinen regionalen Sparten für ihre vergleichsweise kleine Besatzungszone an. Ein Vollprogramm wurde erst im März 1946 ausgestrahlt. Im Oktober 1948 erhielt der SWF Autonomie nach US-Vorbild. Auf die gesamte Rundfunklandschaft hatten die Besatzungsbehörden noch bis 1952 weitgehende Eingriffsmöglichkeiten. Zwischen 1948 und 1949 erließen die neuen westlichen Bundesländer Landesrundfunkgesetze und gründeten den Bayerischen Rundfunk, den Hessischen Rundfunk, Radio Bremen und den Süddeutschen Rundfunk. 1950 schlossen sich alle Landesrundfunkanstalten zur Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) zusammen.
Transistorradios machten die Empfänger zum Alltagsgegenstand
Da Deutschland als Kriegsverlierer nach dem Kopenhagener Wellenplan der Internationalen Fernmeldeunion nur wenige Mittelwellenfrequenzen erhielt, begannen die Rundfunkanstalten den Ausbau des UKW-Netzes voranzutreiben. Der Bayerische Rundfunk richtet daraufhin den ersten Radio-Ultrakurzwellensender Europas ein. Bereits Ende April 1950 empfangen rund 40 Prozent der Hörer das qualitativ bessere UKW-Radio.
In den 1950er-Jahren wurde das Radio endgültig zu einem Alltagsgegenstand: 1954 kamen die ersten Transistorradios aus den USA auf den Markt, klein, leicht und praktisch für unterwegs. Tragbare Kofferradios waren zwar größer, hatten aber einen besseren Klang. 1961 stellte Philips das erste vollständig mit Transistoren bestückte Autoradio vor. 1974 wurde das Autofahrer-Radio-Informationssystem (ARI) eingeführt, mit dem das Radio automatisch Verkehrsmeldungen empfangen konnte. Die ersten kommerziellen Radiostationen im Kabel (Kabelpilotprojekt Ludwigshafen) waren am 1. Januar 1984 Radio Weinstraße und Radio TV Kolibri.
Mit der Verbreitung von Smartphones und Navigationssystemen ist aus dem Radio ein mobiler Computer geworden, der weit mehr kann als Musik zu finden und zu spielen. Die Sender wurden digital und wanderten ins Internet – einen Bluessender aus Mississippi zu hören, ist kein Problem mehr.
Nach dem Fall der Mauer wurde die ARD durch den RBB und den MDR erweitert. Im Hörfunk entstand aus der Fusion des ostdeutschen Senders DS Kultur, des Westberliner Senders Rias 1 sowie des westdeutschen Deutschlandfunks 1994 das Deutschland Radio.
Obwohl er nach wie vor lebendig ist und die Sendeanstalten Symphonieorchester, Chöre und Big Bands unterhalten, ist der Hörfunk dennoch mehr und mehr in den Schatten des Fernsehens geraten. Für viele ist er „nur" ein Nebenbei-Medium, das man gar nicht richtig wahrnimmt. Das macht sich besonders an der Honorarfrage bemerkbar: Die Arbeit der Freien für den Hörfunk wird wesentlich schlechter bezahlt als die für das Fernsehen.