Ein Jahr, so nah an der Vision mancher Thriller-Autoren wie selten zuvor: eine weltweite Pandemie, ein Wettlauf um den Impfstoff, Produktion in Rekordzeit. So hätte sich Science-Fiction-Star Tom Hillenbrand das ablaufende Jahr nicht vorgestellt. Mit dem Schriftsteller haben wir bereits 2019 gesprochen – damals noch unter anderen Umständen.
Herr Hillenbrand, wir haben Ende 2019 ein Interview geführt, in dem wir Ihre schriftstellerischen Themen Technologie, KI, die Zukunft der Menschheit diskutiert haben. Hat die Realität dieses Jahr die Scence- Fiction eingeholt?
Ich habe zum Glück kein Buch geschrieben, das von einer Pandemie handelte. Aber ich habe den Eindruck, wir sind an der Science-Fiction nah dran. Der Impfstoffhersteller Moderna sagte, sie hätten zwei Tage gebraucht, um die Grundstruktur des Impfstoffes zu finden. Das klingt nach Science-Fiction, nach „Star Trek", wo der Computer ein bisschen herumanalysiert und in Sekunden ein fertig produziertes Medikament ausspuckt.
In „Hologrammatica" war eines der Motive der Rückzug ins Private, während Avatare das öffentliche Ich darstellen. Das klingt schon ein bisschen nach 2020.
Ja, aber ich habe gelernt, dass die Beschäftigung nur mit sich selbst unrealistisch ist. Nach vier Wochen haben wir gemerkt, wie sehr uns menschliche Interaktion fehlt, auch wenn wir über Zoom oder Skype miteinander sprechen. Wenn wir können, hocken wir aufeinander.
Science-Fiction stellt häufig auch ethisch-moralische Fragen der Gegenwart. Welche waren dies für Sie in diesem Jahr?
Die größte ethische Frage war für mich: Wie viel ist es uns wirtschaftlich wert, dass möglichst wenige Menschen an Covid-19 sterben? Das betrifft nun viele Wirtschaftsbranchen, die am Rande des Abgrundes stehen, das betrifft aber auch die Einschränkung von garantierten Grundrechten. Das betrifft aber auch Technologie, zum Beispiel die Corona-App. Hätten wir in diesem Fall den Datenschutz laxer handhaben müssen, um mehr Menschen vor Infektionen zu bewahren, möglicherweise Leben dadurch zu retten? Hier geht es um persönliche Daten, ein hohes Gut. Aber wenn wir früher agiler und technologisch affiner gewesen wären, hätten wir die Menschen besser schützen können. Es kann nicht sein, dass eine überarbeitete Corona-App in Deutschland erst im Februar 2021 verfügbar ist – dass es also länger dauert eine adäquate App zu entwickeln als einen mRNA-Impfstoff, der so zuvor noch nie entwickelt wurde. Wir müssen über Datenschutz diskutieren, aber auch darüber, dass Menschen sterben, während wir darüber diskutieren. Wir gewöhnen uns aber auch daran, auch, so bedauerlich das ist, an die Zahl der Corona-Toten. Für wen ist heute die Zahl der Verkehrstoten oder der Grippetoten noch ein Grund zur Trauer? Im Grunde stolpern wir in diesen Zeiten alle täglich über drei bis vier ethische Konflikte, die sich zunächst als Alltagsfragen tarnen.
Hätte uns ein bisschen weniger Datenschutz, ein bisschen mehr Vertrauen in die Technologie besser durch die Krise gebracht?
Ich bin großer Fan des Datenschutzes. In diesem Fall aber würde ich mit Ja antworten. Wir besitzen die Hoheit über unsere Daten, die wir zugunsten unserer Versammlungsfreiheit, der Religionsfreiheit, der Kunstfreiheit beispielsweise hätten etwas einschränken müssen. Würde es in der App ein Häkchen geben bei „Darf das Gesundheitsamt über eine Risikobegegnung informiert werden" und „Darf es darüber informiert werden, wo dieser Fall war", gibt es sicher weniger Nutzer, die kein Häkchen setzen als andere, die es setzen. Es ist mir nicht begreiflich, warum wir die Entscheidungen so getroffen haben, wie wir sie getroffen haben. Oftmals ist es ja so, und das versuche ich auch beim Thema Künstliche Intelligenz zu vermitteln: Man schlittert in diese Entscheidung mehr oder weniger hinein. Wir haben den starken Datenschutz, und daran traute sich niemand heran. In Deutschland aber ist man eher technikfeindlich eingestellt. Technologie ist die einzige Rettung. Das zeigt diese Pandemie: Wir entschlüsseln per Computer das Genom, finden das richtige Protein und schleusen es ein, um das Virus gewissermaßen zu hacken wie einen Code. In wenigen Jahren werden wir noch viel effektiver und schneller diese Methoden nutzen können, denn wir waren technologisch jetzt nicht darauf vorbereitet. Das sind wir nun. Das Projekt DeepMind kann KI-gestützt die Proteinfaltung mittlerweile recht exakt voraussagen, ein biologisches Problem, das zuvor Jahrzehnte der Forschung nicht lösen konnte und für Medikamente und Impfstoffe von großer Wichtigkeit ist. Hierin liegt also ein großes Potenzial. Science-Fiction ist jetzt.
Ist Technologie unsere Lösung für alles? Auch für den Klimawandel?
Ich glaube, da sind wir an einem Punkt, an dem wir es mit Fahrradfahren nicht mehr hinbekommen. Wir haben zu lange gezögert. Die Pandemie ist wie Klimawandel im Zeitraffer: Wir sehen die Welle auf uns zukommen. Aber momentan ist es noch nicht so schlimm – also müssen wir jetzt schon reagieren? So überschreiten wir schnell den Punkt, wo wir dem Klimawandel mit Verhaltensänderungen noch begegnen können. Bis aber nun alle die Technologie besitzen, um zum Beispiel CO2 aus der Atmosphäre zu fischen, dauert es gefühlt noch ewig – in meinem Roman „Hologrammatica" zum Beispiel durch synthetische Bäume. Aber das CO2 muss weg, und das funktioniert nur technologisch.
Die Digitalisierung gilt nun als einer dieser Trends, ausgelöst durch die Pandemie. Werden diese Trends weiter anhalten?
Das muss die Digitalisierung, vor allem in den Schulen zeigen. Ich glaube aber, dass es viele prophezeite Trends gibt, die so nicht eintreten werden. Dass nun mehr Leute aufs Land statt in die Stadt ziehen, etwa, weil es in der Stadt tendenziell enger zugeht. Ich glaube, die Stadt adaptiert sich, stellt sich darauf ein, denn die Vorteile der Stadt sind einfach viel größer in Sachen Infrastruktur oder Digitalisierung. Auch der derzeitige Trend hin zu virtuellen Veranstaltungen wird in ein, zwei Jahren ein anderer sein, ich glaube, der Hunger nach Live-Veranstaltungen wird dann viel größer sein, wenn wir alle halbwegs durchgeimpft sind.
Auch der Parlamentarismus hat angesichts der Entscheidungen über Lockdown-Maßnahmen gelitten, während ein autoritärer Staat wie China mit unfassbar restriktiven Maßnahmen für die Menschen erfolgreich war. Was für Lehren ziehen Sie daraus?
Autoritarismus heißt: Wir können schneller entscheiden, härter und restriktiver. Das ist in China geschehen. Andere autoritäre Staaten, siehe Brasilien oder auch die USA, sind sehr schlecht durch die Krise gekommen. Demokratien wie Südkorea, Taiwan oder Japan aber sind keine autoritären Staaten, sondern sie haben pragmatisch entschieden und waren damit genauso erfolgreich, ohne dass dort gleich die Demokratie infrage gestellt wurde. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich von einer größeren Querdenker-Bewegung in diesen Ländern gelesen habe. Man hat dort auch stärker die Technologie genutzt bei etwas weniger Datenschutz. Die Kultur spielt da eine entscheidende Rolle. In der südostasiatischen Bevölkerung scheint die Akzeptanz von pragmatischen Maßnahmen zur Katastrophenabwehr höher als bei uns. Die Länder zu vergleichen ist schwierig. In Japan beispielsweise ist man gedrillt auf Katastrophen wie Erdbeben, bis hin zu Nachbarschaftshilfen.
Glauben Sie, eine europäische Lösung statt geschlossener Grenzen wäre machbar gewesen?
Nein, wegen politischer Unterschiede. Es gilt ja weiter das Subsidiaritätsprinzip, das heißt, es wird zunächst auf den unteren Ebenen all das getan, was getan werden muss, bevor es von Brüssel aus gesteuert wird. Die britische Presse hat zwar die deutsche Lösung sehr gelobt, selbst aber hätte Großbritannien dies gar nicht leisten können, weil sie keine Gesundheitsämter auf Kreisebene haben. Auch hier wieder: Länder und ihre Antworten auf die Krise sind kaum aufeinander übertragbar. Und Menschen finden immer Wege, geschlossene Grenzen zu überqueren. Kurz vor dem ersten Lockdown war ich noch in Los Angeles. Auf dem Flughafen habe ich mich gewundert, dass dort extrem viele Chinesen mit Masken herumliefen, wo doch Trump sein Reiseverbot von und nach China ausgesprochen hatte. Nun, die waren über Kanada eingereist.
Hat der Lockdown bei Ihnen nun zu mehr oder weniger Produktivität geführt?
Man gewöhnt sich ja an alles, aber vor allem im ersten Lockdown war der Verlust von Tagesstrukturen spürbar einschneidend. Homeschooling trat plötzlich an die erste Stelle und die Fragen, ob Microsoft Teams richtig funktioniert und was eine binomische Formel ist. Dazwischen etwas zu dichten, ist schwierig, das hat mich zwei, drei Monate aus dem Schreiben rausgehauen. Es würde mich ja brennend interessieren, ob es nun einen gewissen besonderen Output gibt, wo doch viele Schriftsteller, Musiker, Wissenschaftler ein Jahr lang zu Hause verbringen mussten. Isaac Newton verbarrikadierte sich 1666, zur Zeit der Großen Pest in England, in seinem Heimatort und legte die Grundlagen für seine „Mathematischen Prinzipien".
Wie wird das Jahr 2020 in der Science-Fiction-Literatur Widerhall finden?
Science-Fiction ist nie nur eine Zukunftsprognose, sondern immer auch ein Kommentar zur Gegenwart. So ist der Film „Terminator" zum Beispiel nur Ausdruck der noch immer aktuellen Angst, die Kontrolle über unseren technologischen Fortschritt zu verlieren. Ich weiß nicht, welche Bücher daraus entstehen, aber ich kann mir vorstellen, dass sich eine Grundangst in Science-Fiction-Literatur manifestiert. Nicht im klassischen Pandemie-Szenario, davon gibt es ja auch schon viele. Aber vielleicht als Außerirdischen-Szenario.