Die Frage nach dem guten Verhalten ist tiefer verankert, als es auf den ersten Blick erscheint. In Wissenschaft und Forschung gehören ethische Fragen ebenso dazu wie im Alltag das bewusste Einkaufen. Es geht ums gute Gewissen und ob wir alles tun dürfen, was wir können.
Er ist sich vorgekommen wie ein „Vogel im Aquarium". So hat Daniel Goeudevert seine Autobiografie überschrieben. Der Franzose hat Literatur studiert und Karriere als Automanager gemacht hat. Und er war seiner Zeit so weit voraus, dass er fast zwangsläufig an seinen Zeitgenossen scheitern musste. Anfang der 90er-Jahre trat er – als VW-Vorstand –
für einen Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs, die Entwicklung umweltfreundlicher Autos und eine kreative Unternehmensführung ein. Bei diesen Ansichten war seine Zeit als Top-Automanager ziemlich übersichtlich.
Goeudeverts Credo: „Wenn wir es schaffen, Moral und Ethik in unser wirtschaftliches Handeln mit einzubeziehen, werden wir noch größeren Erfolg haben, zu Deutsch: mehr Geld verdienen". Mit Moral und Ethik Gewinne steigern? Gegen diese Vorstellung scheint die vielzitierte Quadratur eines Kreises eine vergleichsweise leicht lösbare Aufgabe. Es gibt Dinge, die sich per se gegenseitig auszuschließen scheinen. In einer Zeit, die von neoliberalen Grundströmungen geprägt ist, ethisches Handeln in der Wirtschaft nicht nur zu fordern, sondern auch noch für ein Modell der Gewinnsteigerung zu halten, schien ziemlich verwegen.
30 Jahre später können Kunden mit gutem Gewissen einkaufen. „Aldi schafft das Kükentöten ab". Weil Kükenschreddern nicht zu den tierethischen Vorstellungen dieser Zeit passt und ein negatives Image abgibt. Moralisch-ethische Vorstellungen scheinen zunehmend einen höheren Stellenwert zu bekommen, wenn man Marketingstrategien als Seismografen nimmt. Die Eier hatten übrigens zuvor im Ranking bei Ökotest, neudeutsch gesagt, gar nicht gut performed.
Angewandte Ethik hat auch ohne Corona alle Hände voll zu tun
Auch die schon länger anhaltende grüne Öko-Welle kommt nicht mit Schnäppchen-Appeal daher, sondern mit einem vermittelten guten oder zumindest etwas besseren Gewissen. Was wiederum ein Indiz dafür ist, dass der innere Antrieb, eigentlich etwas Gutes tun zu wollen, vielem äußeren Anschein und der „Geiz ist Geil"-Phase zum Trotz nie wirklich verloren war, allenfalls vordergründig überlagert.
Fragen nach Tierwohl, Umwelt, Klima stehen offensichtlich in der allgemeinen gesellschaftlichen Diskussion hoch im Kurs. Wobei es zugleich im gehetzten Tagestreiben nicht so scheint, als würde sich die Gesellschaft unentwegt mit ethischen Grundfragen beschäftigen. Eher im Gegenteil. Zunehmende Aggression im Alltag und ein vor allem im Netz verbreiteter Kommunikationsstil, der mit guten Sitten und Respekt voreinander nichts mehr tun hat, erwecken eher den Eindruck, dass ethisch-moralische Verhältnisse aus der Mode gekommen sind. Eine gespaltene Welt.
An ethischen Herausforderungen gibt es jedenfalls keinen Mangel. Das zeigt alleine schon ein Blick auf die Teilbereiche, mit denen sich angewandte Ethik in den aktuellen Umbrüchen auseinandersetzt.
Politische und wirtschaftsethische Fragen stehen dabei in Zeiten der Globalisierung ebenso im Fokus wie damit zusammenhänge sozialethische Fragen.Tier- und umweltethische Aspekte gehören inzwischen längst zur alltäglichen Diskussion.
Eine vergleichsweise junge Disziplin ist die Geoethik, die versucht, traditionelle Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung oder Menschenrechte mit den Fragen zusammen zu denken, die sich aus dem Eingriff des Menschen in die Geosphäre ergeben, wobei der Ansatz über die reinen umweltethischen Fragen hinausgeht.
Großen Einfluss hat auch die feministische Philosophie (Gender) entwickelt.Immer bedeutsamer werden klassische Felder der Wissenschafts-, Technik-, Medizin- und Bioethik und Entwicklungen von Informations-, digitaler und virtueller Ethik.
Letztlich geht es immer um die Frage nach richtigen moralischen Entscheidungen und in der praktischen Ethik um Hilfestellungen in konkreten Situationen.
Ganz offensichtlich haben Fragestellungen, die nicht mehr nur aus einem einfachen moralischen Impuls zu entscheiden sind, mit der Komplexität moderner Gesellschaften zugenommen, die die simple Unterscheidung in Gut und Böse nicht mehr einfach treffen lässt. Unter anderem hat das mit auch mit technologischem Fortschritt zu tun.
Beispielsweise die militärethische Frage nach dem Einsatz bewaffneter Drohnen. Besserer Schutz eigener Soldaten auf der einen, ferngesteuerte tödliche Angriffe auf der anderen Seite. Oder die Exportfrage von Dual-Use-Gütern, die auch militärisch eingesetzt werden können. Ethische hemen in Zusammenhang mit KI und Big Data entfalten sich zunehmend deutlicher. Im Gesundheitsbereich stellen sich nicht nur diffizile Fragen am Anfang und am Ende des Lebens, sondern längst auch grundsätzliche: Sind wir als Menschheit gerade dabei, uns selbst überflüssig zu machen, oder haben wir längst begonnen, wie Yuval Noah Harari meint, „Homo Deus", also Gott zu spielen? Dürfen wir alles, was wir können? Das ist und bleibt eine der Kernfragen der modernen Welt.
Der bloße Glaube an Lösung durch Technik ist brüchig
Die Diskussion in diesen Bereichen ist ständiger Begleiter. Die Zahl der Ethikkommissionen und Beiräte wächst ständig. An fundierter Expertise mangelt es im Grunde nicht. Ob es um autonomes Fahren geht oder den Einsatz von KI bei der Personalauswahl oder Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Am Ende geht es immer um den Menschen und die Frage der Abwägung unterschiedlicher und je nach Situation konkurrierender Werte.
Dabei wirft der technologische Fortschritt ebenso viele grenzwertige Fragen auf wie gleichzeitig der Glaube weit verbreitet ist, dass durch technischen Fortschritt alles in den Griff zu bekommen ist, somit eigene Verhaltensänderungen nicht notwendig seien. Das klassische Beispiel ist der Klimaschutz. Die Hoffnung, durch verbesserte Technologien die gesteckten Klimaschutzziele zu erreichen, erübrigen dann sozusagen, eigenes Verhalten allzu sehr hinterfragen und dann womöglich auch noch konsequenterweise ändern zu müssen. Mal ganz abgesehen von der Frage, wer sich die technologischen Errungenschaften überhaupt leisten kann.
Aber womöglich müssen wir uns auf Dauer gar nicht mehr mit derart komplexen Fragen belasten. Schließlich gibt es Unternehmen, die sich in ihrer Entwicklung ausdrücklich zum Ziel gesetzt haben, eine KI (Künstliche Intelligenz) zu entwickeln, die uns die die Last unbliebsamer Entscheidungen abnimmt. Was wiederum nichts Geringeres als die nächste ethische Frage aufwirft.
Auf der einen Seite ist eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit ethischen Fragen ebenso zu beobachten wie gleichzeitig auf der anderen Seite eine Entwicklung, bei der Menschen derartige Fragen für ziemlich überflüssiges Zeug halten.
Zwischen diesen Polen zeigt sich nicht nur beim Einkaufsverhalten und den Fridays for Future, dass die Frage, wie ich mich moralisch gut und richtig verhalte, zur Dauerbeschäftigung gehört. Ein Indiz ist die blühende Landschaft praktischer Ratgeber mit den „hochwertigsten ethischen Fragen zum Diskutieren", so eine Verlagswerbung. Ob klassisch gedruckt oder digital stellen sich Fragen wie: „Sollten wir alle vegan leben?", „Ist Männlichkeit toxisch?", „Macht die Medizin uns krank?". Mag sein, dass dabei auch viele kluge Sätze formuliert wderden, die so manchem einige Gewissensbisse ersparen, ohne dass es gleich hochwissenschaftlich zugeht. Ob die Lektüre praktischer Alltagstipps dazu führt, sich wie „ein Vogel im Aquarium" zu fühlen, sei dahingestellt. Die Nachfrage ist zumindest ein Indiz, dass Menschen derartige Fragen umtreiben.
Eigentlich wenig verwunderlich in einer Welt, die mehr Fragen als Antworten zu bieten hat. Was keine neue Erscheinung ist. Nur scheinen die Fragen heute expotenziell zuzunehmen, was die Reichweite der Folgen und die rasante Geschwindigkeit der immer neuer Herausforderungen betrifft.
Viele der grundlegenden Fragen haben das Coronavirus und die Pandemie wie im Brennglas fokussiert. Offen bleibt, was davon mit der Pandemie wieder in den Hintergrund verschwindet oder letztlich ein Stück einer „neuen Normalität" wird.