Wenn es ans Eingemachte geht, ist der Rat der Kirchen gefragt. Ihre Rolle hat sich in einer säkularen Welt verändert, sagt Benedikt Welter, Dechant und Sprecher bei „Das Wort zum Sonntag". Und die Pandemie hat auch die Kirche verändert.
Herr Welter, der Ethikrat ist in diesem Jahr zu neuen Ehren gekommen. Ruft auch jemand bei den Kirchen an, wenn es um solche schwierigen Fragen geht, wie sie uns in diesem Jahr begegnet sind?
Das muss man differenziert sehen. Wir Kirchen sind ja auch im Ethikrat vertreten. Es gibt diese gesellschaftlichen Gesprächsformate, die es ja auch vor Corona gegeben hat. Beispielsweise ist ja auch Krankenhausseelsorge beim palliativen oder beim onkologischen Konsult dabei, also immer, wenn es um ethische Fragen im Blick auf den Patienten geht.
Aufgrund unseres Staatskirchenvertrags sind wir strukturell eingebunden. Und in diesen Formaten, die es gibt, laufen dann auch die Anfragen. Ich glaube schon, dass Politiker sich zusätzlich eine theologische Expertise einholen, den Bischof oder einen Theologen oder einen Pfarrer fragen. Aber das wird sicher nicht laufend gepostet.
Das kann zu dem öffentlichen Eindruck führen, Kirchen würden sich eher zurückhalten.
Das ist wie immer mit Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung oder medialer Wahrnehmung. Aber da bin ich mit den 2000 Jahren Erfahrung eher nüchtern. Ich mache Wahrnehmung von Kirche nicht davon abhängig. Ich denke, es geht nicht darum: Wenn wir oft genug auf Facebook oder auf anderen Kanälen vorkommen, sind wir da. Wir sind da. Die entscheidenden Leute wissen das, auch wenn das nicht jeden Tag in der Zeitung steht. Und mit entscheidenden Leuten meine ich sowohl die Entscheidungsträger als auch die Menschen vor Ort. Es ist schon so, dass wir gefragt werden. Wir werden vielleicht nicht mehr als Erste gefragt. Das ist eine Realität. Wenn ich von einer säkularen Welt rede, kann ich nicht gleichzeitig sagen: Frag’ uns zuerst. Es ist gut, dass wir noch gefragt werden. Und wir haben ja gute Leute, auch in anderen sozialethischen Fragen, in medizinethischen Fragen, in wirtschaftsethischen Fragen.
Ist Kirche eigentlich „systemrelevant"?
Die Kirche mag nicht systemrelevant sein, aber ich weiß, dass Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte, Angehörige in bestimmter Weise gehandelt haben, weil sie Christen sind. Das ist die Motivation, mehr zu tun als von mir verlangt wird, mir eine zusätzliche Belastung zuzumuten um eines Anderen willen. Wir sind indirekt systemrelevant, weil unsere Botschaft systemrelevant ist, weil die etwas mit Menschlichkeit zu tun hat, den Anderen höher zu schätzen als sich selber. Das sind christliche Tugenden. Menschen haben in der Corona-Krise krisenfest gehandelt, weil sie in ihrem Glauben motiviert waren, und weil sie auch aus ihrem Glauben die Kraft dazu hatten, das zu tun. Ich nehme nur die Bilder von Bergamo, wo im Viertelstundentakt beerdigt wurde und hundert Priester gestorben sind.
In einem Artikel warf die „Süddeutsche Zeitung" die Frage auf: Lässt die Corona-Krise religiöse Menschen vom Glauben abfallen oder leitet sie Atheisten zu Gott? Welche Antwort würden Sie auf diese Frage geben?
Es gibt gewisse volksmundartige Weisheiten, denen wir in der Regel eine Wahrheit zusprechen. Eine der Volksmundredeweisen die ich für absolut falsch halte ist: „Not lehrt beten". Wenn der Satz stimmen sollte, müsste anders formulieren werden können: „Beten lehrt die Not". Religion ist eine mehrschichtige, mehrdimensionale Grundsicht auf die Dinge. Als religiöser Mensch stelle ich mein Leben von vornerein in einen größeren Kontext, den ich dann mit einem transzendenten verbinde. Da heraus entsteht dann sowas wie die Konstruktion von Sinn. Wenn ich in eine Krisensituation komme, helfen mir diese religiösen Grunddimensionen, sie zu interpretieren. Ich kann sie als Prüfung annehmen, um in meinem menschlichen Leben besser zu werden, weil das Leben mehr ist als eine Aneinanderreihung von Kausalketten. Das ist auch etwas, was wir gerade erleben. Unser Leben lässt sich nicht in Kausalketten aufdröseln. Das hat uns die Pandemie deutlich gemacht. Das vermeintlich Selbstverständliche ist plötzlich nicht mehr selbstverständlich. Deshalb ist Religion gewissermaßen ein Prä, mit dem ich grundsätzlich leben kann. Und das ist für mich nicht kompartibel mit jemandem, der von vorneherein ohne Religion seine Konstruktion von Sinn und seinen Umgang mit Krisen gestaltet. Deshalb ist für mich die Pandemie nicht etwas, was jemanden, der nicht religiös ist, zur Religion bringt. Wenn jemand eine religiöse Disposition in sich hat, könnte es sein, dass es dadurch beschleunigt werden würde, aber dann ist die religiöse Disposition bereits vorhanden. Im Sinne von Schriftstellerin Nelly Sachs, die schon gesagt hat: Die Sehnsucht zu glauben, ist schon der Anfang zu glauben.
Es kann aber auch sein, dass dieser Mensch wie Hiob – die klassische biblische Figur – erst Recht ins Hadern kommt mit seinem Gott. Aber immerhin ist da eine Beziehung. Auch wenn ich mit Gott hadere, ist Gott da. Und das ist für mich jetzt das Entscheidende: Hat die Pandemie vielleicht eine kathartische Funktion bei Religiosität? Oder beschleunigt die Pandemie sogar die pathologische Dimension von Religion?
Wissen Sie schon, wohin diese Tendenz führen wird?
Ich bin noch im Beobachtungsstatus und kann somit auch keine vollwertige Antwort geben. Dennoch fallen mir Dinge auf. Nehmen wir mal die Gottesdienstteilnehmer. Für uns Katholiken die Höchstform von Glaubenspraxis im Sinne der Liturgie. Hat denen, die vor dem Lockdown jeden Tag in die Kirche gegangen sind, das ein inneres Rüstzeug beschert, von dem sie zehren können, um den Lockdown zu überstehen? Oder sind sie zurückgeworfen worden auf eine vorher schon vorhandene, noch größere Einsamkeit, die sie jetzt meinenohne Gott meinen gestraft leben zu müssen? Als nach dem Lockdown Gottesdienstbesuche unter Einschränkungen wieder möglich waren, sind einige nicht mehr gekommen, die vorher jeden Tag da waren. Bei vielen – das kann ich belegen – war das mit gesundheitlichen Sorgen verbunden, weil sie im risikobehafteten Alter sind und Kontakte vermeiden wollten. Aber andere – und das hörte ich von Kollegen – haben in dieser Zeit, in der sie den Gottesdienst nicht praktiziert haben, festgestellt, dass sie den Gottesdienst nicht mehr brauchen…
Was hat Corona in der Institution Kirche verändert?
Es gab einen Digitalisierungsschub. Das Bistum hat gemerkt: Wir können auch Strom. Also, wir kriegen das Funktionale der Institution auch digital hin. Wir haben kreative Leute, die das Digitale sinnvoll nutzen. Wir streamen Gottesdienste, mal schlecht, mal recht. Das verändert auch Gottesdienste. Das verändert die Liturgie. Die schlecht gestreamte Messe ist dieselbe wie der gut gestreamte Gottesdienst. Aber die Leute, die sich das am PC oder auf dem Tablet ansehen, sollen auch ein ästhetisches Erlebnis haben. Also auch da: In der Pandemie trennt sich die Spreu vom Weizen. Es gibt welche, die sagen, ich kann meine Arbeit nicht mehr so machen wie früher – also bleib ich zu Haus. Und andere fragen: Wie kann ich helfen? Auch da wieder Beschleuniger, Katalysator. Die Institution entdeckt Technik, aber auch, dass Technik nicht das Direkte ersetzt. All unsere Sakramente sinnlich. Aber es darf jetzt keine Berührung mehr geben. Bei der Taufe darf ich jetzt dem Täufling kein Kreuz mehr auf die Stirn machen. Oder bei der Firmung zwar mit Chrisam salben, aber der Gefirmte darf kein Amen sagen und muss ein Namensschild hochhalten. Diese Entfremdungen verdunkeln das Geschehen. Es geht etwas verloren in der Erfahrbarkeit unseres Glauben, nämlich, dass Christus mich berühren will.
Welche Themen bewegen die Menschen in der aktuellen Situation? Mit welchen Fragen werden Sie am häufigsten konfrontiert?
Leider ist der direkte Austausch aufgrund der Pandemie eingeschränkt – mit Ausnahme von Kondolenzgesprächen, Hauskommunionen, Begegnungen am Sterbebett. Ungebrochen ist die Seelsorge bei den Kolleginnen und Kollegen in der Klinikseelsorge mit allen Schutzmaßnahmen.
In den Pfarreien gehen die Leute in die Messe und dann wieder nach Hause. Unsere Kommunikation läuft viel über Telefonanrufe oder Mails.
Dabei gibt es viele wichtige Themen, die die Menschen bewegen. Einsamkeit ist ein großes Thema. Angst ist ein großes Thema. Die Menschen spüren, dass das Leben als solches unsicher geworden ist. Das, was sich vermeintlich sicher angefühlt hat, ist nicht mehr. Es gibt nicht mal einen Schonraum. Das ist etwas, was die Pandemie auch von anderen Krisen wie der Wirtschafts- oder der sogenannten Flüchtlingskrise unterscheidet. Corona dringt in alle gesellschaftlichen Lebensbereiche ein: persönliche, familiäre, wirtschaftliche, individuelle – und das weltweit. Man kann sich nicht mal ein Ticket nehmen und auf eine Insel gehen.
Was geben Sie diesen Menschen als Antwort mit auf den Weg?
Ich habe gar nichts zu geben. Bestenfalls kann ich aus meiner Reflektion etwas anbieten und vielleicht macht es bei dem einen oder anderen klick und es passt. Ich lese die Heilige Schrift jetzt mit der Corona-Brille und habe den Eindruck, dass sich dadurch die Schrift nochmals verschärft. Im Grunde genommen hat Corona in vielen Bereichen nichts Neues geschaffen. Vielmehr ist Corona in vielem ein Katalysator, und Dinge, die wir in uns konstruiert haben, werden enttarnt. Wie beispielweise die Frage nach der Zeit und der Familie. Wie viel Zeit benötige ich für meine eigene Verwirklichung, wie viel Zeit widme ich anderen? Diese Fragen wurden nicht erst mit Corona aufgeworfen. Sie waren schon vorher da. Corona führt diese Fragen nur zu einer schnelleren Antwort.
Wie liest man die Heilige Schrift unter der Corona-Brille?
Indem ich die Heilige Schrift in den aktuellen Kontext stelle und frage: Gibt es da etwas, was ich darin lesen kann, was mir hilft, mit der Pandemie umzugehen? Vielleicht ein Wort, ein Adjektiv, ein Verb, das mich plötzlich anspringt, weil ich die Stelle jetzt in diesem Kontext lese. Die Schrift hat Substanz, wobei es nicht um handfeste Antworten geht.
Grundsätzlich betrachten wir das Leben als Pilgerschaft mit dem Ausblick, dass das eigentliche Ziel noch kommen wird. Deshalb ist die Krise etwas – wenn ich den christlichen Glauben ernst nehme – was mich zwar bewegt, aber mich nicht in meiner grundsätzlichen Existenz gefährden kann. Um es mit Paulus zu sagen: Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes.
Eine Haltung, die uns als Gesellschaft immer weiter abhandenkommt …
Wir leben in einer säkularen Gesellschaft. (Anm. d. Red.: In der säkularen Gesellschaft wird die Bindungen an die Religion gelöst und die Fragen der Lebensführung dem Bereich der menschlichen Vernunft zugeordnet) Dass ist eine Tatsache. Ich kann heute ein moralisch-ethisch gutes Leben führen und brauche dafür weder Religion noch Gott als Begründung. Junge Leute gehen auf die Straße für Klimaschutz, ohne dass sie an einen Schöpfergott glauben müssen, sie interessiert die Zukunft des Planeten. Jemand engagiert sich für Flüchtende, ohne dass er das Gebot der Nächstenliebe glauben muss.
Die Institution Kirche hat also ihre Vormachtstellung verloren und ist in einer Nische?
Ich mache jetzt keinen Abgesang auf Kirche, ganz im Gegenteil. Ich halte es mit dem heiligem Thomas von Aquin. Er hat zwar schon 800 Jahre auf dem Buckel, aber es muss uns um Wirklichkeit gehen. Er hat geschrieben, dass die Frage nach der Wahrheit gestellt wird, damit sich hinter der Wahrheit die Wirklichkeit entbirgt. Also hilft es mir gar nicht – vor allem weil ich katholisch bin – mir irgendwas schön oder schlecht zu reden. Vielmehr muss ich versuchen, zu verstehen. Die Gültigkeit des Evangeliums liegt im Evangelium selber: „Himmel und Erde werden vergehen, meine Worte werden nicht vergehen." Jesus geht durch die säkulare Welt nicht kaputt. Aber wir als Kirche müssen uns gut überlegen, wie wir uns in der säkularen Welt bewegen. Ohne Verurteilung und ohne Anbiederung.
Wie kommt der säkulare Mensch dahin, vielleicht doch noch das Wort Gottes zu hören oder den Gedanken Gottes vielleicht sogar zuzulassen? Dass wir uns hier und da uneingeschränkt diakonisch engagieren und uns immer von der Not eines Menschen bewegen lassen – egal welcher Konfession er angehört – ist für mich klar. Aber die Institution Kirche, die uns über die Jahrhunderte mit Kultur und Zivilisation geprägt hat, muss jetzt anerkennen, dass wir in dieser Zeit Kultur und Zivilisation nicht mehr primär prägen. Das ist so, und natürlich ist das anstrengend. Das sieht in Afrika, in Asien und in Nord-Amerika anders aus. Da hat die Religion noch einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert. „Be blessed" ist dort nicht nur eine Floskel. Dass der Trump sich mit der Bibel inszenieren lässt, gehört dazu. Ein säkularer Präsident hätte in den USA überhaupt keine Chance. Da sind sie anders gepolt.
Wenn die Kirche nicht mehr zuerst gefragt wird, was macht dann Kirche heute aus?
Dass wir da sind. Auch mit einem guten Sinn für Pragmatik. Bei uns kann man anrufen, ohne dass man befürchten muss, da muss erst mal der Generalvikar, dann der Bischof und dann der Papst gefragt werden. Es geht nicht zuerst darum, dass wir, die Kirchen, was ganz Tolles machen. Als es zum Beispiel darum ging, einen Ersatz für die ausgefallenen Tafeln zu organisieren, da waren wir in Saarbrücken in einem Netzwerk mit dabei, haben dafür gesorgt, dass die richtigen Leuten zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle ein Konzept entwickeln konnten. Das hat wunderbar funktioniert, dezidiert auch mit nicht-christlichen Gruppen. Das finde ich übrigens ein Zukunftsmodell, dass wir mit Leuten, die unsere Sicht auf den Menschen teilen, den Menschen als etwas Kostbares betrachten, wenn auch vielleicht aus anderer Motivation als wir, etwas zusammen machen. Also nicht: Wir machen und die anderen machen mit, sondern wir machen mit. Und wenn wir als konstruktiver Partner wahrgenommen werden, ist es gut. Jetzt bei der Heilig Abend Aktion (Anm. d. Red.: für Bedürftige und einsame Menschen) ist es genauso. Das ist für mich Kirche im 21. Jahrhundert.