Die Bekämpfung der Corona-Pandemie ist ein ethischer Balance-Akt. Auf viele Fragen gibt es keine wirklich zufriedenstellende Antwort. Einige Vorschläge zum Umgang mit der Situation berühren Tabugrenzen.
Vor uns liegt ein Weihnachtsfest, das es sonst nur noch in Kriegszeiten gab: die „stille Nacht" wird vielerorts zur Realität. Weil die zweite Corona-Welle wie befürchtet übergeschwappt ist, ist das Land nun abermals im Lockdown. Zum Singen und Frohlocken unter dem Weihnachtsbaum wird dabei wohl niemand zumute sein.
Es war zu erwarten, die Situation hatte sich lange angedeutet. Und wenn wir ehrlich sind, hatten die politisch Verantwortlichen nach dem dramatischen Hochschnellen der Todeszahlen und Inzidenzwerte nur noch die Wahl zwischen Skylla und Charybdis, also gleich großen Übeln. „Es geht", sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, „um Leben und Tod!" Das ist das ultimative Argument. Darüber geht nichts mehr.
Fragwürdige Vergleiche als Rechtfertigung
Die Fragen, die sich mit solch gravierenden Maßnahmen verbinden, wie sie der Lockdown mit sich bringt, sind überaus schwer, womöglich nie zufriedenstellend zu beantworten. Denn genau genommen gibt es keine verbindliche Antwort, weil es keinen Königsweg aus der Krise gibt. Natürlich ist es richtig, dass die Welt in diesem Seuchenjahr keine Glühweinstände braucht und damit auch keine Weihnachtsmärkte. Natürlich geht die Welt nicht unter, wenn für eine Weile Schulen und Geschäfte schließen, und der Zugang zur Kultur versperrt bleibt. Doch jenseits der unendlich vielen „weichen" Opfern dieser Pandemie, die in der Diskussion oft zu kurz kommen: Die ethisch fragwürdigen Vergleiche mancher Politiker zur Rechtfertigung ihrer Maßnahmen sind nicht minder problematisch. Wer wie der erwähnte Bürgermeister Müller provozierend fragt, „wie viel Tote uns das Shoppingerlebnis wert" ist und den Menschen damit ungeniert ein unmoralisches Verhalten unterstellt, hat die Grenze des Zumutbaren überschritten. Müllers Vergleich ist zynisch angesichts der immensen Sorgen und existenziellen Nöte des Handels und der Gastronomie sowie der gesamten Kulturbranche. Wenn der Bürgermeister seine eigene Logik zu Ende denkt, dürfte er in kein Auto mehr steigen ohne sich fragen zu lassen, wie viel Verkehrsopfer ihm sein praktisches Mobilitätsverhalten denn wert ist.
Es wird immer umstritten bleiben, wie stark eine Regierung die sozialen Kontakte der Menschen beschränken darf, bis in den verfassungsrechtlich geschützten Bereich der Wohnung hinein. Es wird auch immer umstritten bleiben, ob Schulen und Kitas geschlossen werden sollten, und es wird niemals einen Konsens darüber geben, ob der vorsorgliche Schutz unserer Großeltern in den Alten- und Pflegeheimen durch soziale Abgrenzung der richtige Weg ist. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen) hatte diese schwierige Debatte im Frühjahr bei der ersten Welle mal kurz angestoßen mit dem flapsigen Hinweis, man rette mit dem radikalen Lockdown auf Kosten der jüngeren Generation vor allem Leute, die in einem halben Jahr ohnehin sterben würden. Aber auch Palmer musste registrieren, dass die Gesellschaft darüber nicht reden will. Und er hat gelernt, dass man Tabus nicht brechen darf, ohne selbst massiv attackiert zu werden.
Das Seuchenjahr 2020 hat uns jedenfalls Grenzen aufgezeigt und vor Herausforderungen gestellt, die uns – mit Ausnahme der Kriegsgeneration – bislang unbekannt waren. Wir mussten lernen, dass wir nicht nur Zeugen eines unfassbaren Geschehens sind, sondern Subjekt und Objekt zugleich! Wir sind Täter und Opfer in einem, denn auch ohne Vorsatz und Wissen können wir andere anstecken oder eben angesteckt werden. Allesamt sind wir von dem Virus betroffen, ob jung oder alt, arm oder reich. Die globale Gleichzeitigkeit ist historisch einmalig und sie wird wegen ihrer Einzigartikeit auch ein ewiges Menetekel bleiben. Zumal uns Corona zu etwas zwingt, was der Mensch – siehe Fall Palmer – nur ungern tut: Sich selbst und sein Verhalten zu hinterfragen. Das war und ist schwierig und wie man sieht, haben es die „Querdenker" unserer Gesellschaft nicht geschafft. Man mag diese Leute für unbelehrbar halten, man kann sie auch bedauern, weil ihnen eine spezielle Vernetzung der Synapsen die Einsicht verwehrt. Doch sie sind von ihrer Ansicht so überzeugt wie der Millionär, der zum Malocher sagt: „Wir sitzen alle im selben Boot."
Eine Aussage übrigens, die richtig und falsch zugleich ist. Zwar sind wir tatsächlich alle gleichermaßen betroffen, weil das Virus keine Unterschiede kennt zwischen Knappe und König, Prolet und Präsident. Gleichwohl gibt es gravierende Unterschiede: Während bestimmte Schichten in der Bevölkerung eher indirekt tangiert werden – dazu gehören auch Politiker und Beamte – sind andere – etwa Senioren und Pflegekräfte – sehr direkt und in oft existentieller Weise betroffen.
„Corona zwingt uns, uns und unser Verhalten zu hinterfragen"
Am Ende eines historischen Jahres mit elementaren Umwälzungen sind wir also an einem Punkt angelangt, der die ganze Dramatik der Krise offenbart. Vielleicht besteht dadurch ja die Chance, den ethischen Kern des Prinzips Lebensschutz weiter zu denken – und ihm generell und universell Geltung zu verschaffen. Jeden Tag lesen wir die neuesten Statistiken und registrieren erschüttert die hohe Zahl der Toten und Neu-Infizierten allüberall. „Bergamo!" ruft Bayerns Ministerpräsident Markus Söder alarmierend ins Mikrofon und meint damit das klinische Chaos südlich der Alpen. Aber es kümmert uns nicht sonderlich, wenn jenseits unserer Corona-Befindlichkeit täglich 7000 Kinder an Unterernährung und mangelnder Medizin-Versorgung sterben. Wir stellen nicht ernsthaft die Frage, warum in einer globalisierten Welt, in der von Spekulanten täglich mehrere Billionen Dollar zum Zwecke der Profitmaximierung bewegt werden, noch immer eine Milliarde Menschen hungern müssen. Oder, um im eigenen Land zu bleiben: Wir erschrecken zwar zuverlässig über die schlimmen Nachrichten zu Covid-Infizierten und Todesopfern auf den Intensivstationen. Doch das einsame Sterben unserer hochbetagten Mitbürger in den Alten- und Pflegeheimen zu anderen Zeiten ficht uns nicht an.
Bleibt zu hoffen, dass die nun anlaufende größte Impf-Aktion der Menschheitsgeschichte die Gesellschaft nicht noch weiter spaltet: In Geimpfte, die dann wieder unbeschwert ihre alten Gewohnheiten genießen dürfen; und Ungeimpfte, die vom sozialen Leben weiter ausgeschlossen bleiben. Eine Privilegierung der Geimpften wäre Gift für den Zusammenhalt der Gesellschaft – und womöglich kontraproduktiv, denn das lebensrettende Serum schützt zwar vor einer Erkrankung an Covid-19, aber nicht zwingend davor, dass man wie bisher infiziert wird und das Virus damit potenziell weiterträgt. Deshalb: „Frohe Weihnachten" kann man in diesem Jahr wohl nur verkniffen wünschen. „Ein gutes neues Jahr" immerhin aus hoffnungsvollem Herzen.