Selten war der Deutsche Ethikrat so gefragt wie in diesem Jahr. Die Krise hat gezeigt, dass ethische Fragen ganz handfeste und praktische Bedeutung für das Zusammenleben haben, betont Professor Wolfram Henn, Medizinethiker und Mitglied im Deutschen Ethikrat.
Herr Prof. Henn, Wir haben in diesem Jahr so viel vom Ethikrat gehört wie selten in der Vergangenheit, wissen aber kaum etwas über die Arbeit. Wie funktioniert der Ethikrat?
Die 24 Mitglieder sitzen zwei bis drei Tage im Monat zusammen. Es gibt Unterarbeitsgruppen für die jeweiligen Fragestellungen, die dann im kleinen Kreis Unterlagen zusammenstellen, die dann im Plenum des Ethikrats zu Stellungnahmen für Parlament, Regierung und Öffentlichkeit verdichtet werden. Dabei kommt es durchaus auch vor, dass wir sogenannte Gabelvoten erstellen, wo sich die Ratsmitglieder nicht einig sind und ihre Überlegungen hinsichtlich ihrer Uneinigkeit öffentlich machen. Das hatten wir vor kurzer Zeit bei der Frage nach Immunitätsbescheinigungen, wo ein Teil der Ratsmitglieder gesagt hat: Das wird uns in die falsche Richtung führen. Und ein anderer hat gesagt, für bestimmte Fragestellungen kann das sinnvoll sein. Es geht uns neben der Politikberatung auch darum, die Diskussion in der Öffentlichkeit anzuschieben.
Was kann der Ethikrat in der Politikberatung leisten, wenn Politik eher auf pragmatisches Aushandeln im Tagesgeschäft angelegt ist, während Sie sich mit grundsätzlichen Fragestellungen auseinandersetzen?
Das ist genau das Spannungsfeld, um das es geht. Politikberatung ist ein mitunter enttäuschendes Geschäft, weil man auf seinen Rat oft nicht die Antwort bekommt, die man gerne hätte. Aber gerade in den aktuell schwierigen Zeiten ist die Politik doch sehr daran interessiert, eine ethische Grundlage für sozusagen die Spielfelder zu bekommen, auf denen sie sich bewegen kann. Konkret hatten wir es in den letzten Wochen mit einer Frage zu tun, die politisch zu beantworten ist: Es wird zunächst zu wenig Impfstoffe geben. In welcher Reihenfolge sollen wir die verteilen? Da war es für die Politik sicherlich klug, sich wissenschaftlichen Rat einzuholen, in diesem Fall sogar über den Ethikrat hinaus mit der Wissenschaftsakademie Leopoldina, um sich erstmal Kenntnisse zu verschaffen und eine Grundlage zu haben, politisch zu entscheiden, und auch in der Öffentlichkeit zu zeigen, dass diese Entscheidung keine willkürliche ist, sondern auch eine wissenschaftliche Grundlage hat.
Bei der Frage der Priorisierung scheint zunächst einleuchtend, wenn man sagt: zuerst die sogenannten vulnerablen Gruppen, medizinisches Personal, Sicherheitspersonal. Ist es so einfach und klar?
Wenn man den internationalen Vergleich zwischen den Stellungnahmen betrachtet, sagen die einen: Diejenigen, die am meisten gebraucht werden, müssen als erstes geimpft werden, damit die Gesellschaft am besten funktioniert. Das ist eine ganz schwierige Abwägung. In Deutschland gab es jetzt die andere Festlegung, dass zuallererst die Bedürftigsten geimpft werden sollen. Das hat auch einen praktischen Aspekt, weil das Gesundheitssystem dadurch am besten und schnellsten entlastet wird, wenn diejenigen geimpft werden, die, wenn sie krank würden, mit höchster Wahrscheinlichkeit auf die Intensivstation müssten. Das hat natürlich eine gewisse Grobkörnigkeit, weil es Leute gibt, die mit 80 Jahren noch Marathon laufen und fitter sind als der 70-Jährige, der eine chronische Lungenerkrankung hat. Aber für den allerersten Rollout über die Impfzentren kann man nicht so kleinteilig vorgehen, weil man keine Zeit damit verbringen kann, Nachforschungen über den individuellen Gesundheitszustand anzustellen. Und es ist eine Frage der allgemeinen Akzeptanz. Je klarer die Kriterien sind, um so eher wird klar, dass es hier gerecht zugeht und niemand argwöhnen kann, es würden durch irgendwelche Mauscheleien Einzelne besser dastehen als andere. Und man muss realistischerweise sagen: Es gibt unter den wenigen, aber sehr lauten ideologischen Impfgegnern genau die, die diese Narrative bedienen wollen.
Hilft in diesem Fall Vernunft?
Vernunft ist immer nützlich (lacht). Man muss ja, wenn man auf die Menschen blickt, die sich nicht impfen lassen wollen oder zweifeln, drei Gruppen unterscheiden, die wissenschaftlich-soziologisch sehr gut belegt sind. Zum einen die lauteste von ihnen, nämlich die ideologischen Impfgegner, die vielleicht zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, aber natürlich auch in Internetforen sehr aktiv sind. Dann gibt es eine Gruppe von vielleicht zehn bis 20 Prozent, die aus persönlichen Gründen Impfvorbehalte haben, die aber Argumenten zugänglich sind. Um die müssen wir uns bemühen, und zwar nicht oberlehrerhaft, sondern mit Argumenten. Und dann gibt es eine dritte Gruppe, die ist nicht ganz scharf umrissen, die man als impfnachlässig bezeichnet. Das hat man bei Masern gehabt, wo das Bedrohungsgefühl nicht so groß war. Da ist auch die Niederschwelligkeit der Angebote das Problem. Dem müssen wir jetzt entgegentreten, in dem wir leicht zugängliche Impfangebote schaffen. Den Skeptikern müssen wir mit guten Argumenten, mit Studien, begegnen. Und zu den ideologischen Impfgegnern will ich sagen, es gibt eine gute Lebensregel: Wenn Du sagst, was Du nicht willst, musst Du sagen, was Du stattdessen willst. Bisher habe ich von diesen Leuten noch keine Alternativvorschläge gehört, wie wir die Corona-Pandemie überwinden sollten ohne Impfung. Da kommt gar nichts.
Das wird sie aber auch nicht besonders beeindrucken.
Es stimmt wohl, dass man die nicht überzeugen kann. Aber man muss denjenigen, die diesen Leuten zuhören, klarmachen, dass sie von dort keine sinnvollen Vorschläge zu erwarten haben.
Dieses Muster gilt wohl für viele Fragen und dieses Jahr hat uns ja vor enorm viele Fragen gestellt.
Das ist richtig.
Ist unsere Gesellschaft nicht mehr gewohnt, sich mit solchen grundsätzlichen, also auch ethischen Fragen auseinanderzusetzen? Müssen wir das erst neu lernen?
Da ist etwas dran. Wir sind in den letzten Jahrzehnten insofern träge geworden, als diejenigen, die nach dem Krieg und nach der Wende aufgewachsen sind, nicht mehr die Lebenserfahrung bekommen haben, dass man in Situationen kommen kann, wo existenzielle Bedürfnisse nicht ohne Mühe und ohne Risiko befriedigt werden. Wir sind bequem geworden. Es ist natürlich erfreulich für die Menschheit, zumindest in Europa, dass ethische Diskussionen ein bisschen einen spielerischen Charakter hatten, weil wirkliche Bedrohungen ja nicht zu bewältigen waren. Jetzt ist diese Bedrohung da, und nun merkt man, dass ethische Argumente handfeste, praktische Konsequenzen haben können. Da setzen sich Egoismen bei manchen Leuten in sehr harter Weise durch, die vorher nicht so existenziell gewesen sind. Nochmal zur Politikberatung: Sie will der Politik Hinweise geben, so oder so zu entscheiden. Wir stecken sozusagen die Spielfelder ab, auf denen sich Politik verantwortungsvoll bewegen kann.
Ist das nicht auch für die Politik ein ungewohnter Prozess?
Das ist richtig. Auch die Politik hat in den letzten Monaten dazugelernt, ich denke da an die Aufwertung von Wissenschaft im Ganzen und von wissenschaftlicher Politikberatung, dass so existenzielle Fragen zu beantworten sind, dass die allgemeine politische Expertise nicht mehr ausreicht.
Es gibt Gruppen, beispielsweise Fridays für Future, die darauf hoffen, dass dieser Lernprozess insgesamt für Politik, nicht nur für die aktuelle Pandemie, anhält.
Dem stimme ich intensiv zu. Ich hoffe sehr, dass dieser Lernprozess nicht nur in der Politik, sondern insgesamt in der Öffentlichkeit einsetzt, dass nicht der Lauteste Gehör finden soll, sondern der mit den besten inhaltlichen Argumenten. Wissenschaft mit ihrem Denkkonzept des ständigen Selbstzweifels, gegenseitige Kontrolle der Expertinnen und Experten untereinander und immer wieder Erneuern von Erkenntnis, was auch Veränderung von Positionen mit sich bringt, ist etwas, was in der Politik einen besseren Platz finden muss, als es früher der Fall gewesen ist. Wobei wir schon eine Trennung aufrechterhalten müssen: Wissenschaft darf keine Macht ausüben. Da gibt es auch Kritik aus der Wissenschaft in Richtung Politik. Wenn es beispielsweise heißt: Der Drosten hat das entschieden. Der hat das natürlich nicht entschieden, sondern eine Empfehlung von Drosten ist übernommen worden. So gilt es auch für den Ethikrat. Wir geben Empfehlungen, aber das demokratische Mandat, die Entscheidung zu treffen, liegt bei der Politik, und muss auch dort bleiben.
Fühlen Sie sich da ein Stück weit „verhaftet"?
Wir fühlen uns in Verantwortung genommen. Das machen wir natürlich gerne.
Bei Abwägungen zu einschneidenden Entscheidungen hat man den Eindruck, tut sich Politik schwer. Wenn man Begründungen in der Vielzahl von Gerichtsentscheidungen zu den Maßnahmen liest, sieht man sehr differenzierte Abwägungen verschiedener Werte. Warum schafft Politik das nicht, und wie unterscheidet sich Ihre Abwägung von denen der Gerichte?
Gerichte müssen konkrete Einzelfälle entscheiden. Das unterscheidet es auch von Politikberatung. Richter sind übrigens auch nur Menschen. Man kann auf der gleichen Basis von Überzeugungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. In der Abwägung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit und Infektionsschutz kann man von Ort zu Ort zu unterschiedlichen Positionen kommen, die sich im Nachhinein auch als falsch erweisen können. Eines der klügsten Worte aus der letzten Zeit ist von dem sonst so robust argumentierenden Gesundheitsminister Jens Spahn: „Wir werden uns noch bei einigen Leuten entschuldigen müssen." Das ist für Politik gar nicht so unerheblich. Man ist sich bewusst, dass man Entscheidungen zu treffen hat, die sich im Nachhinein im Lichte neuer Erkenntnisse vielleicht nicht als unklug, aber als nicht zielführend erweisen. Aufgabe von Gerichten ist es, tagesaktuelle Entscheidungen zu treffen. Und was Entscheidungen von Gerichten mit Anti-Corona-Demonstrationen betrifft, haben sich die Gerichte auch schwergetan, wo man im Nachhinein auch sagt: Das hätten sie etwa in der Leipziger Innenstadt nicht so laufen lassen sollen. Das werden sich die Richterinnen und Richter sich selber auch sagen. Es irrt der Mensch, solang er strebt, hat der alte Goethe schon gesagt, und da ist was dran. Das muss man akzeptieren, so lange der gute Wille – das ist der Unterschied zu Ideologen – Grundlage der Entscheidung ist.
In Empfehlungen des Ethikrates heißt es, bestimmte Einschränkungen seien in Abwägung hinnehmbar, da sie zeitlich befristet seien. Ist diese Argumentation nicht auch eine Falle?
Da leuchtet das Grundprinzip des Selbstzweifels durch. Wenn sich Erkenntnisse oder Bedrohungslagen ändern, müssen sich Handlungsweisen ändern. Das kann natürlich zu einer Glaubwürdigkeitsschwäche führen. So haben die Virologen Kritik abbekommen: „Anfang des Jahres habt ihr gesagt, wir brauchen keine Masken, jetzt empfehlt ihr sie." Dazu kann man nur sagen: Wir haben dazu gelernt, also müssen wir das anders betrachten und anders argumentieren. Das wird dann von Ideologen auch gerne bewusst fehlinterpretiert. Aber sich auf neue Erkenntnisse einzustellen ist eine Notwendigkeit für die Wissenschaft. Wenn die Politik das übernimmt, braucht sie ein relativ breites Kreuz. Sie steht vor der kommunikativen Aufgabe, gegenüber der Öffentlichkeit zu begründen, warum eine Empfehlung, die früher in die eine Richtung gegangen ist, jetzt in eine andere Richtung geht.
Sie haben gesagt, dass Sie auf Vernunft, Aufklärung und gute Argumente setzen. Was gibt Ihnen das Vertrauen, wenn man sich den Zustand unserer Gesellschaft in Teilen ansieht, dass das tragfähig ist?
Ich glaube und hoffe zugleich, dass die Wahrnehmung der Spaltung der Gesellschaft insofern nicht zutreffend ist, als die weit überwiegende Mehrheit der Menschheit zu den Vernünftigen gehört. Die Unvernünftigen sind lautstark und haben mit den sozialen Medien sozusagen Megafone, werden deshalb sehr stark wahrgenommen. Aber es sind in Wirklichkeit sehr wenige, wenn man sich repräsentative Umfragen ansieht. Man kann also davon ausgehen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung vielleicht eher zurückhaltend, guten Argumenten aber zugänglich ist.
Aber die öffentliche Wahrnehmung zeigt oft ein anderes Bild.
Es ist aber auch für die Medien ein großes Dilemma, weil es eine Intuition von Fairness und von gutem journalistischen Arbeiten ist, konträre Positionen auf Augenhöhe einander gegenüber zu stellen. Nur wenn es um Pro oder Contra Impfung geht, dann stehen hinter dem Pro über 99 Prozent der Wissenschaft, jede Menge Erfahrung und Faktenwissen und der Gegnerschaft stehen keine Wissenschaft und keine guten Argumente zur Verfügung. Das heißt: Sie sind nicht auf Augenhöhe. Oder polemisch gesagt: wenn es um Globalisierung geht, werden gegenübergestellt ein Mensch, der etwas von Weltwirtschaft versteht und einer, der die flache Erde postuliert. Die sind nicht auf Augenhöhe, und es ist ganz schwer für die Medien, diese Verwerfungen offenbar zu machen, ohne die Verschwörungsideologie zu bedienen, dass hier Zensur stattfinden würde.