Die Partei Bündnis 90/Die Grünen erfreut sich hoher Umfragewerte. Doch in den neuen Bundesländern tut sie sich nach wie vor schwer. Steffi Lemke ist eine der wenigen ostdeutschen Grünen im Bundestag. Dennoch sieht sie ihre Partei auch im Osten auf einem guten Weg.
Frau Lemke, Ihr Parteivorsitzender Robert Habeck hat das Ziel ausgerufen, die Union als stärkste Kraft abzulösen. In den neuen Bundesländern liegen die Umfragewerte der Partei allerdings deutlich niedriger als in der alten Bundesrepublik. Kann man wirklich Kanzler werden, ohne im Osten zu punkten?
Gegenfrage: Kann man Kanzlerin oder Kanzler werden, ohne bei den jungen Wählerschichten, den unter 25-Jährigen, zu punkten? Die Grünen mögen im Osten nicht die gleichen Wahlergebnisse wie im Westen haben. Aber bei den jungen Menschen liegen wir dort ebenso gut wie in den alten Bundesländern. Bei der Frage, wer künftig die stärkste politische Kraft in Deutschland wird, wird es vor allem darum gehen, welche Partei auf die aktuellen Probleme die besten Antworten parat hat: die Bekämpfung der Pandemie, aber auch die Klimakrise und die Gleichstellung aller Menschen in unserem Land, egal ob jung oder alt, Mann oder Frau, mit oder ohne Migrationshintergrund. Ich denke, dass wir bei diesen Themen sehr wohl den Kampf mit der CDU um den ersten Platz aufnehmen können.
Die Grünen sind nach wie vor eine Partei, die vor allem in der alten Bundesrepublik verankert ist: 92 Prozent ihrer Anhänger wohnen im Westen, nur acht Prozent im Osten. Woran liegt das?
Ebenso wie die SPD wurden Bündnis 90/Die Grünen im Osten Anfang der 1990er-Jahre komplett neu gegründet und konnten deshalb nicht auf alte Mitgliedsbestände zurückgreifen wie die CDU, die FDP oder die Linkspartei. Wir haben unsere Strukturen in den neuen Bundesländern komplett neu aufbauen müssen. Das war in einer Zeit, in der sich in der Gesellschaft gravierende Umbrüche abgespielt haben, ein Nachteil. Damals ist fast eine ganze Generation in die alten Bundesländer abgewandert, und ein Großteil davon ist nie zurückgekehrt. Vor allem jüngere Menschen haben im Westen ihre Chance ergriffen. Genau jene Menschen also, die traditionell stärker zu den Grünen tendieren.
In einigen ostdeutschen Großstädten wie Leipzig haben die Grünen inzwischen eine solide Basis aufgebaut, dagegen sind sie auf dem Land in kleineren Gemeinden praktisch unsichtbar. Wieso?
Auch das erklärt sich zum Teil mit der Abwanderung in den 1990er-Jahren. Aber gerade in den kleinen Gemeinden ist es für die Mobilisierung der Menschen noch wichtiger als in den Metropolen, dass die Partei dort ein Gesicht hat. Eine Person, die in der Ortsgemeinschaft fest verankert ist. So jemand fehlt uns bisher vielerorts leider noch.
Gehen die Themen der Grünen an den Menschen im Osten vorbei? Die Menschen dort machen sich womöglich mehr Sorgen um ihre soziale Absicherung als um das Klima.
Wer das sagt, ignoriert, welchen Anteil das Umwelt- und Naturschutzthema an der friedlichen Revolution 1989 hatte. Die Umweltzerstörung durch die Landwirtschaft, die Chemieindustrie und den Kohleabbau war ein wichtiger Impuls für die Bürgerrechtsbewegung. Ich teile auch nicht die These, dass Menschen, die nicht so viel Geld zur Verfügung haben, sich weniger für Umweltschutz interessieren als die Reichen. Der ökologische Fußabdruck ist bei Menschen mit hohem Einkommen in der Regel sogar höher als bei denen mit niedrigem Einkommen.
Umweltschutz und Nachhaltigkeit muss man sich auch leisten können. Im Osten liegen die Gehälter immer noch unter denen im Westen. Tun sich die Grünen deshalb so schwer mit ihren Themen?
Die Frage greift meiner Meinung nach zu kurz, weil sie ausschließlich auf das private Verhalten abzielt. Ich glaube nicht, dass die Politik das Thema Umweltschutz auf die Privathaushalte abwälzen darf. Das sind politische Entscheidungen, die jetzt getroffen werden müssen. Es geht nicht darum, dass die Menschen alle in den Biomarkt rennen – vielmehr muss die Politik die richtigen Weichen stellen und gleichzeitig dafür sorgen, dass diese Maßnahmen durch einen sozialen Ausgleich abgefedert werden. Nur so werden wir die Klimakrise verhindern können.
Sie haben die Grüne Partei in der DDR mitgegründet. Bei den ersten freien Wahlen 1990 landete die Partei weit abgeschlagen – auch weil die West-Grünen sich weniger stark als andere Westparteien im Ost-Wahlkampf engagiert hatten. War das die Ursünde der Grünen im Osten?
Wir hatten die Unterstützung der West-Grünen, so weit das in den damaligen Parteistrukturen möglich war. Eine solche Werbekampagne, wie sie Helmut Kohl und die CDU 1990 in den neuen Bundesländern gefahren haben, hätten die Grünen finanziell gar nicht stemmen können. Rückblickend bin ich jedoch froh, dass wir mit unseren Parteifinanzen immer anständig gewirtschaftet haben. Meine Partei hat jedenfalls nie illegale Geldspenden angenommen, wie Helmut Kohl ganz persönlich.
Für den Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld war es ein großer Fehler, dass die Grünen in den 1990ern die Leistungen und den Mut der Bürgerrechtsbewegung nicht genug wertgeschätzt haben. Wirkt sich dieses Versagen bis heute aus?
Alle Parteien, die Anfang der 1990er auf die Fehler bei der Wirtschafts- und Währungsunion hingewiesen haben, hatten danach lange Zeit daran zu knabbern, dass ihnen vorgeworfen wurde, dass sie gegen die deutsche Einheit gewesen wären. Dabei wird ausgeblendet, dass auch für große Teile der Bürgerrechtsbewegung nicht in erster Linie die deutsche Einheit das Ziel war, sondern politische Reformen in der DDR. Später wurden die großen Hoffnungen vieler Menschen in die Einheit bitter enttäuscht. Dieser Frust hat sich sicher über Jahre hinweg im Wahlverhalten niedergeschlagen.
Mit den guten Umfragewerten der Grünen kommen auch hohe Erwartungen. Haben Sie Angst, dass ein nur durchschnittliches Abschneiden bei den kommenden Landtagswahlen 2021 in Thüringen und in Sachsen-Anhalt die Partei vor der Bundestagswahl ausbremsen könnte und der aktuelle Hype dann schnell vorbei ist?
Ich habe die Wahlergebnisse nicht als Niederlage erlebt. Wenn man über 20 Jahre Wahlkämpfe um die Fünfprozenthürde bestritten hat, dann sind runde zehn Prozent schon ein ziemlich gutes Ergebnis. Ich kann aber verstehen, dass die Außensicht eine andere ist. Ohnehin habe ich unseren Erfolg nie ausschließlich über Wahlergebnisse definiert. Wenn man bedenkt, dass wir im Bund schon lange nicht mehr mitregieren und die jetzige Bundesregierung der beiden Kohleparteien SPD und CDU trotzdem einen Kohleausstieg vereinbart haben, den die Grünen schon vor acht Jahren erstmals in ihrem Wahlprogramm hatten, dann kann man das durchaus als unseren politischen Erfolg werten.
Für die Bundestagswahl sind Schwarz-Grün und Rot-Rot-Grün für die Grünen die beiden einzigen Optionen. Eine Mehrheit der Deutschen bevorzugt die Koalition von Union und Grünen, bei den Anhängern der Grünen ist es allerdings umgekehrt. Was wäre Ihre Präferenz und warum?
Ich bin Realistin und sehe gegenwärtig keine Mehrheit für Grün-Rot-Rot. Wir werden diese Frage wie immer in den vergangenen Jahren anhand der Inhalte entscheiden. In Sachsen hat uns das zuletzt in eine Kenia-Koalition aus CDU, SPD und Grünen geführt, die für eine Stabilisierung der politischen Verhältnisse und für positive Entwicklungen in vielen Bereichen gesorgt hat.
Ebenfalls noch zu entscheiden ist die Frage nach einem grünen Kanzlerkandidaten. Zur Auswahl stehen Robert Habeck oder Annalena Baerbock, die als Brandenburgerin den Osten ansprechen könnte. Wer wäre Ihre Wahl?
Wenn die politischen Verhältnisse im nächsten Jahr so sind, dass die Grünen einen Kanzlerkandidaten oder eine Kanzlerkandidatin ins Rennen schicken, werden wir die Frage klug entscheiden. Vorher werde ich mich dazu nicht äußern.