Das Saarland als Modellregion – im Politiker-Jargon oft gehört. Dabei ist nicht nur das Land, sondern die gesamte Großregion als Reallabor glänzend geeignet. Dieser Meinung sind Parlamentspräsident Karl-Heinz Lambertz von der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens und der Leiter des Europa-Institutes, Prof. Dr. Thomas Giegerich.
Mehr oder weniger Europa? In Zeiten von Corona und des Rückfalls in nationalstaatliches Denken bleibt das Thema umstrittener denn je. Gerade Grenzregionen wie die Großregion könnten aber „mehr Europa wagen" und als Reallabor fungieren. Schließlich sind Grand Est mit Lothringen, Luxemburg, Wallonien, der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens sowie das Saarland und Rheinland-Pfalz wie kaum eine andere Region über ihre jeweiligen Grenzen hinaus eng und vielfältig miteinander verflochten. Deshalb hat sich die Europa Union Saar ehrgeizige Ziele gesetzt: Sie will der Großregion in Europa mehr Gewicht verleihen. Dies reicht von der Schaffung neuer Gebietskörperschaften über ein transnationales Parlament mit eigenem Budget, Gesetzgebungsinitiative und Exekutive bis hin zu grenzüberschreitenden Wahlkreisen. Europa als Europa der Regionen.
Ob diese ambitionierten Vorschläge der Europa Union überhaupt eine praktische Chance zur Umsetzung haben, darüber diskutierten Karl-Heinz Lambertz, Präsident des Parlaments der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, und Staatsrechtler und Leiter des Europa-Instituts an der Uni des Saarlandes, Prof. Dr. Thomas Giegerich, in einer Online-Veranstaltung Ende November. Eingeladen dazu hatten die Europa Union, die Stiftung europäische Kultur und Bildung sowie die Asko Europa-Stiftung.
Grenzüberschreitende Wahlkreise
Aufgrund der unterschiedlichen Kompetenzen der Partner in der Großregion sieht Prof. Thomas Giegerich die Schaffung neuer Gebietskörperschaften allerdings eher skeptisch, wenn auch wünschenswert. Die Schwierigkeiten seien vorprogrammiert, da die Kompetenzen der einzelnen Mitglieder der Großregion unterschiedlicher nicht sein könnten. Zudem bedeute ein Mehr an Europa immer ein Weniger an nationalstaatlicher Kompetenz, und wer gebe schon gern freiwillig etwas von seinem Einfluss ab. Es wäre aus seiner Sicht sinnvoller, kleinteiliger zu starten, zum Beispiel mit Frankreich und Deutschland. Luxemburg und Belgien könnten sukzessive folgen.
Ähnlich argumentiert Karl-Heinz Lambertz. Mit seiner rund 50-jährigen politischen Erfahrung plädiert der Parlamentspräsident für eine stufenweise Zusammenarbeit. „Wir sollten lieber mit Inhalten statt mit einer Neuordnung der Strukturen beginnen. Sonst droht ein Stillstand für die nächsten zehn Jahre in der Zusammenarbeit." Die Großregion sei extrem vielfältig und ein komplexes Gebilde. Vielfalt sollte besser durch die Hintertür behandelt werden. Der bereits bestehende Interparlamentarische Rat (IPR) könne beispielsweise weiterentwickelt werden. Der Rat verfügt über ein eigenes Budget, wenn auch derzeit sehr überschaubar, und bearbeitet schon lange wichtige Handlungsfelder, wenn auch ohne Gesetzgebungshoheit. „Das Ganze ist ausbaufähig."
Eine Absage erteilen sowohl Lambertz als auch Giegerich derzeit einer direkten Wahl der Ratsmitglieder durch die Bürger. Zum einen verfügt der Rat über keine substanziellen Kompetenzen, also warum sollten sich die Bürger der Großregion dafür interessieren? Zum anderen ist die Wahlbeteiligung in vielen Ländern eher rückläufig bis auf wenige Ausnahmen, und wo bliebe also die Legitimation bei einer Beteiligung von vielleicht zehn oder 15 Prozent. Dies führe im Endeffekt zu einer anti-europäischen Stimmung, warnt Lambertz. Keine Machtbefugnisse der Institution, kein Interesse der Bürger, so der Nenner. „Wir sollten den Weg vielmehr über Budgetmaßnahmen beschreiten wie beim Europaparlament." Wer mehr Geld hat, kann mehr verteilen. Das weckt Begehrlichkeiten und gleichzeitig das Interesse bei den Bürgern, die davon profitieren.
Interessant und wünschenswert ist dagegen der Vorschlag, grenzüberschreitende Wahlkreise an den Innengrenzen der EU zu etablieren. Warum nicht mal einen europäischen zweisprachigen Abgeordneten des Saarlandes und des Départements Moselle in das Europaparlament entsenden? Ein Vorschlag, der nicht ganz neu ist und schon vor den letzten Wahlen zum Europa Parlament von Politikern in Lothringen und im Saarland ins Spiel gebracht wurde. Ein Versuch wäre es wert, zumal der gewählte europäische Abgeordnete frei von nationalen Zwängen agieren könnte, da er die Legitimation aus mindestens zwei Ländern hätte. Doch dafür müsste das Wahlrecht für Europawahlen reformiert werden, da die Wahlen bisher auf nationaler Ebene organisiert werden, erklärt Prof. Giegerich. Ein weiterer Vorteil wäre bei einer Reform des europäischen Wahlrechts, dass die Mogelpackung „EU-Spitzenkandidat", normalerweise auf Staats- und Regierungschef-Ebene ausgekungelt, entkräftet würde. Die Wähler aus den Mitgliedstaaten könnten grenzüberschreitend ihren Spitzenkandidaten wählen. Er wäre politisch legitimiert und nicht durch europäisches Postengeschacher durch die Hintertür zu ersetzen.
Legitimation für EU-Spitzenkandidaten
Und dennoch: Die Großregion bleibt für viele Menschen ein abstraktes Konstrukt. Ob mehr Bürgerbeteiligung Abhilfe schaffen kann, bleibt umstritten. Sie ist in den Grenzregionen gar nicht vorgesehen und wenn, was würde mit den Ergebnissen passieren, fragt sich Karl-Heinz Lambertz, wenn es gar keine Rechtsgrundlage für die Umsetzung gäbe? Sie landen womöglich in der nächsten Schublade. Das erzeuge mehr Frust als Lust auf Europa. Um die Großregion voranzubringen, wäre die Politik besser beraten, mehr Möglichkeiten der Begegnung von Menschen zu schaffen. Es gebe bereits viele Ansätze und etablierte Aktionen in Kultur, Sport, Gesundheit, Wirtschaft, die ausbaufähig seien. „Es ist eine ständige Aufgabe, unbürokratisch grenzüberschreitende Projekte voranzubringen. Die Arbeit für ein Mehr an Europa geht nie aus."
So gern Prof. Thomas Giegerich und Karl-Heinz Lambertz Europa europäischer machen wollen und die Großregion als ein mögliches Reallabor sehen, so frustrierend erleben beide die europäischen Gegebenheiten. Ein Dorn im Auge, ein ewiger Hemmschuh ist für die Pro-Europäer und Föderalisten das Prinzip der Einstimmigkeit. „Sie gilt als ein fataler Schwachpunkt und führt dazu, sich immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen", so Lambertz. Polen und Ungarn lassen bei den Haushaltsberatungen in der EU an dieser Stelle grüßen. Peinlich für die EU auch das Verhalten gegenüber Weißrussland, weil sich die 27 Staaten nicht auf eine gemeinsame Linie verständigen können, wie schon so oft in jüngster Vergangenheit. Ganz zu schweigen von der europäischen Asylpolitik. Ohne Mehrheitsentscheidungen trete die EU auf der Stelle.
Als ein weiteres Manko gilt das sogenannte „Bermuda-Dreieck", sprich Ministerrat, EU-Kommission und Parlament. Das von den Bürgern gewählte Parlament ist das schwächste Glied in der Kette, hat in der Außen- und Sicherheitspolitik keinerlei Befugnisse, noch nicht einmal ein Anhörungsrecht. Lediglich bei Budgetfragen kann es mitbestimmen. Zu wenig, um den Bürgern Europa schmackhafter zu machen. Mit der „Perspektive 2050" schlägt Lambertz die Möglichkeit einer zweiten Kammer mit Vertretern aus den Regionen vor, für ein föderales und regionales Europa. Des Weiteren müsse das Parlament mehr Gesetzgebungskompetenzen und eine Exekutive erhalten, sonst bleibe es ein „zahnloser Tiger". „Wir brauchen ein europäisches Gemeinwesen, eine dreidimensionale Ebene und zwar europäisch, national und regional, eine kohärente Politik, die für die Bürger nachvollziehbar ist und einen echten Mehrwert bringt", so sein Appell. Doch leider stehen die Zeichen in den meisten europäischen Ländern derzeit auf Re-Nationalisierung und Populismus. Damit werden so gut wie alle Maßnahmen für ein Mehr an Europa konterkariert. Mit fatalen Aussichten für die europäische Zukunft. Die Schaffung der Vereinigten Staaten Europas ist und bleibt wohl noch lange eine Vision. Die Großregion wäre aber ein ideales Versuchslabor, ein föderales und demokratisches Europa der Region ansatzweise voranzubringen.