Es war ein langes Jahr. Und es ist noch nicht zu Ende. Immerhin steht schon das Wort des Jahres fest. Dass die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort „Corona-Pandemie" in diesem Jahr für würdig erklärt hat, kam jetzt nicht völlig überraschend. Zur Auswahl gestanden hätten auch „Geisterspiele" oder „systemrelevant", aber irgendwie sind die mit der Pandemie schon abgedeckt. „Verschwörungserzählung" hat es nur auf Platz drei gebracht, was sicherlich wieder nur einer dunklen Machenschaft zu verdanken ist.
Soweit alles bekannt. Was fehlt, ist der Satz des Jahres. Mein Favorit dafür: „Wir werden einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen." Gesagt hat das Jens Spahn im April, also zur ersten Hochphase der Pandemie.
Zu der Zeit konnte er darauf setzen, dass sein Satz ankommt. Zu neu die Situation und zu viele Unbekannte ließen Verständnis erwarten, dass immer wieder Entscheidungen korrigiert werden mussten. Ein halbes Jahr und eine Sommeratempause später haben die Dauerdiskussionen seit Herbst zermürbt. Jetzt darüber nachzukarten, dass das Lockdown- Light-Experiment gescheitert ist, ist müßig. Irgendwie haben weite Teile der Bevölkerung den jetzt richtigen Lockdown fast mit Erleichterung aufgenommen. Auf ungewöhnliche Weihnachten waren wir längst eingestellt. Zeit, um den Spahnschen Satz umzukehren. Wie viel müssten wir uns verzeihen lassen? Waren immer nur die anderen zu nachlässig? Wie viel Ernsthaftigkeit ist uns ob der fast schon normalen Sommerzeit abhanden gekommen, wenn uns die eine oder andere Einschränkung unsinnig vorkam? Das klingt vielleicht etwas pastoral, aber sind die Fragen deshalb völlig aus der Luft gegriffen? Wenn wir schon „der Politik" ein merkwürdig anmutendes Treiben auf offener Spitzentreffen-Bühne vorwerfen, und das mit gewissem Recht, entlässt uns das nicht ganz aus der Frage, welches Schauspiel wir gelegentlich selbst abgeliefert haben. Die Lektion Demut vor einer Situation, die wir nicht mit klassischem Durchwurschteln und Hoffen auf technologische Lösungen allein in den Griff bekommen können, steht jetzt neu auf den Plan. Selbst wenn mit Impfung und Medikamenten dieses Virus zu zähmen ist, stehen uns die eigentlichen Lektionen aus diesem Jahr erst noch bevor. Es geht nicht um das „Ob", sondern das „Wie" wir es anpacken wollen.