Ganz Europa schnürt angesichts der Pandemie gigantische Rettungspakete. Inklusive 2021 hat alleine der deutsche BundesÂhaushalt eine halbe Billion Euro für Ãœberbrückungshilfen, KurzarbeiterÂgeld und den Ankauf von Schutzausrüstung eingeplant.
In der Krise verschulden sich nicht nur private Haushalte, sondern auch die öffentliche Hand. Während die Schuldenuhr im Privaten aber deutlich langsamer tickt und das wahre Ausmaß durch Kurzarbeit und Überbrückungshilfen verschleiert ist, wird sich der deutsche Staat für die Jahre 2020 und 2021 wieder deutlich höher verschulden. So hat es Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) geplant. Massiv mehr Geld ist für vor allem für Wirtschaftshilfen eingeplant, aber auch zur Unterstützung von Krankenhäusern sowie zur Beschaffung von Impfstoffen. Insgesamt 70 Milliarden Euro mehr will die Bundesregierung im kommenden Jahr dafür ausgeben.
Bisher hat der Bund rund 96 Milliarden Euro neue Kredite im nächsten Jahr geplant. Bereits für das laufende Jahr hat der Bundestag frische Kredite von fast 218 Milliarden Euro genehmigt, vor allem zur Finanzierung von Hilfspaketen. Dafür nahm der Bund eine Ausnahmeregel von der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse in Anspruch, dies ist auch für 2021 geplant.
Im ersten Halbjahr 2020 betrug die Staatsverschuldung Deutschlands 2,1 Billionen Euro – der höchste jemals gemessene Schuldenstand. Nun ist Deutschland aufgrund einer zuvor brummenden Konjunktur dagegen gut gewappnet. Die Schuldenquote, gegengerechnet zum Bruttoinlandsprodukt 2019 in Höhe von 3,4 Billionen Euro, beträgt 61 Prozent. Ohne die Pandemie wäre Deutschland mit voraussichtlich weniger
Schulden im Jahr 2020 also deutlich unter der Maastricht-Grenze von 60 Prozent geblieben. Das diesjährige Bruttoinlandsprodukt jedoch wird weitaus niedriger ausfallen. Laut Statistischem Bundesamt sank es in den vorangegangenen Quartalen um 1,7, 11,3 und 3,9 Prozent zum jeweiligen Vorjahresquartal. Wie stark der November-Lockdown das BIP einkürzt, ist noch unklar. Klar ist aber, dass Deutschland im internationalen Vergleich noch gut dasteht. Dennoch entzündet sich an den Corona-Hilfen der ewige Grabenkampf zwischen Befürwortern und Gegnern von Staatsausgaben.
Kritik an Hilfen für Autoindustrie
Der Präsident des Bundesrechnungshofes, Kay Scheller, hat die Bundesregierung und Koalitionsfraktionen vor einem weiteren Ausufern der Neuverschuldung „unter dem Deckmantel der Corona-Krise" gewarnt. „Nicht alle neuen Schulden sind durch die Pandemie verursacht und lassen sich mit der außergewöhnlichen Notsituation begründen", sagte Scheller der „Rheinischen Post". „Unter dem Deckmantel der Corona-Krise werden Mittel für zukünftige Ausgaben und Wünsche in Sondervermögen geparkt", kritisierte er. Auch Milliardenhilfen für die Autoindustrie rügte er. „Angesichts hoher Unternehmensgewinne stellt sich aber die Frage, warum die Industrie diesen Umbau nicht selbst finanziert", sagte Scheller mit Blick auf die Umstellung auf E-Autos. Auch der Bund der Steuerzahler (BdSt) übte scharfe Kritik an den Neuverschuldungsplänen der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2021. „Obwohl die aktuellen Hilfspakete teils nur mäßig angenommen werden, plant Bundesfinanzminister Scholz für kommendes Jahr erneut mit Mega-Schulden", kritisiert BdSt-Präsident Reiner Holznagel. „Diesen BlankoÂscheck darf der Bundestag dem Minister nicht ausstellen!" Die Verschuldung im Etat 2021 müsse drastisch gedeckelt werden, die Abgeordneten sollten ihr Etatrecht stärker wahrnehmen und vorerst einen Haushalt auf Sicht beschließen, forderte Holznagel. „Nachbessern kann man immer noch." Christian Sewing, Vorstandschef der Deutschen Bank, dagegen fordert laut „Manager Magazin" weniger Gießkannenprinzip bei den Corona-Hilfen. Unternehmen müssten sich anpassen – oder pleitegehen: „Wir müssen ein gewisses Maß an kreativer Zerstörung zulassen."
Auf EU-Ebene aber werden ungeachtet dessen die Geldschleusen geöffnet – welche Auswirkungen dies auf die Inflation haben wird, ist unklar. Schon jetzt beträgt die Inflation preisbereinigt 0,3 Prozent. Flankiert von der Initiative „Next Generation EU", einem zeitlich befristeten Aufbau-Instrument der Europäischen Union, ist der langfristige EU-Haushalt – auf den sich die EU-Staats- und Regierungschefs erst kürzlich einigen konnten – das größte Konjunkturpaket, das je aus dem EU-Haushalt heraus finanziert wurde. Demnach stehen für die Erholung Europas nach Corona bis 2027 insgesamt 1,8 Billionen Euro zur Verfügung. Diese Summe soll dazu dienen, „ein grüneres, stärker digital ausgerichtetes und krisenfesteres Europa zu gestalten", heißt es seitens der Europäischen Kommission. Rund 1.074 Milliarden Euro aus diesem gigantischen EU-Finanzpakets sind für den nächsten siebenjährigen Haushaltsrahmen eingeplant, weitere 750 Milliarden Euro fließen in Konjunktur- und Investitionsprogramme, um die Folgen der Pandemie auch nachhaltig zu bekämpfen.
Zeitige Rückzahlung ist unwahrscheinlich
Der französische Staatschef Emmanuel Macron nannte diese Vereinbarung einen historischen Tag für Europa. Ebenso äußerte sich Italiens Regierungschef Giuseppe Conte. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz warnte dagegen davor, angesichts der Corona-Krise StaatsÂ-schulden in Europa zu vergemeinschaften. „Wir wollen einen Einstieg in eine dauerhafte Schuldenunion vermeiden und treten daher für eine klare zeitliche Befristung der Nothilfe und für Kredite anstelle von Zuschüssen ein", äußerte sich Sebastian Kurz in einem Gastbeitrag im „Focus". Darin rief er jedoch auch zur gemeinschaftlichen Hilfe auf. „In dieser schwierigen Notlage müssen wir einander helfen in Europa", betonte Kurz. „Aber mit Augenmaß und Verantwortung."
Dass seine Bedenken nicht unbegründet sind, spiegeln die erst kürzlich veröffentlichen Zahlen von Eurostat, dem statistischen Amt der Europäischen Union, wider. In einer seiner jüngsten Veröffentlichungen befasst sich das Amt mit dem Schuldenstand im Euroraum. Demnach belief sich die Schuldenquote, gegengerechnet zum Bruttoinlandsprodukt im Euroraum am Ende des zweiten Quartals 2020, in dem die Auswirkungen der Eindämmungsmaßnahmen sowie die politischen Reaktionen darauf in einem erhöhten Finanzierungsbedarf voll zum Tragen kamen, auf 95,1 Prozent. Ende des ersten Quartals 2020 lag der Schuldenstand im Euroraum dagegen erst bei 86,3 Prozent. Verglichen mit dem zweiten Quartal 2019 erhöhte sich der öffentliche Schuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt sowohl im Euroraum – von 86,2 Prozent auf 95,1 Prozent – als auch in der Gesamt-EU: von 79,7 Prozent auf 87,8 Prozent. Dabei ist die Stärke des Anstieges auf zwei Faktoren zurückzuführen: massiver Anstieg der Staatsverschuldung und sinkendes Bruttoinlandsprodukt.
Die höchste Verschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt am Ende des zweiten Quartals 2020 wurden in Griechenland (187,4 Prozent), Italien (149,4 Prozent), Portugal (126,1 Prozent), Belgien (115,3 Prozent), Frankreich (114,1 Prozent), Zypern (113,2 Prozent) und Spanien (110,1 Prozent) verzeichnet. Die niedrigsten Quoten kommen aus Estland (18,5 Prozent), Bulgarien (21,3 Prozent) und Luxemburg (23,8 Prozent). Mit einer Verschuldung von 67,4 Prozent – 2,28 Billionen Euro – liegt Deutschland etwa in der Mitte des Schuldenrankings der 27 EU-Staaten. Ende des zweiten Quartals 2019 waren es noch 61,1 Prozent.
Insgesamt sind die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union im zweiten Quartal 2020 mit rund 11,86 Billionen Euro verschuldet. Für das gesamte Jahr 2020 wird eine Erhöhung der Staatsschuldenquote in der EU von 79,2 Prozent auf 93,9 Prozent erwartet. Ob die Schulden zwischen 2027 und 2058, wie vorgesehen, tatsächlich beglichen werden, ist eher unwahrscheinlich. Die Stimmen für einen Schuldenschnitt insbesondere für ärmere Länder mehren sich. Für das Vertrauen in die Eurozone aber ist es wichtig, dass die Kreditgeber auf die Rückzahlung der Schulden zählen können. Und darauf wird es in den kommenden Jahren besonders ankommen.