In der Pandemie erscheint den meisten Menschen der Schutz der Grundrechte Nebensache zu sein. Der Gesundheitsschutz gilt aber nicht absolut. Darauf haben Verfassungsrechtler und Gerichte im Laufe des Jahres immer wieder hingewiesen.
Die Regierungen in aller Welt waren auf das Coronavirus zunächst reichlich unvorbereitet, doch dann reagierten sie in kürzester Zeit erwartungsgemäß mit Verboten. Das private und öffentliche Leben von Millionen von Menschen wurde in großem Ausmaß eingeschränkt. So wurden viele Einrichtungen und Betriebe geschlossen, Veranstaltungen verboten und die Menschen zu Verhaltensänderungen gedrängt und zum Teil verpflichtet. Wie schwerwiegend diese Einschränkungen waren und sind, darüber gehen die Meinungen seither auseinander. Für manche gehen sie zu weit, für viele nicht weit genug. Die große Mehrheit unterstützt, was Regierung und Verwaltung derzeit vom Bürger verlangen. Vielen scheint dabei nicht klar zu sein, was das Herz des Rechtsstaates ausmacht: Auch der Staat darf nicht alles, die Handlungsfreiheit des Staates macht Halt bei den Grundrechten.
Ab Mitte März erließen Bundes- und Landesregierungen Regelungen und Einschränkungen, wie es sie in dieser Bündelung und Häufung in Deutschland in Friedenszeiten in Deutschland noch nicht gegeben hatte. Nach einer Zeit der Lockerung im Sommer sind viele davon seit November wieder in Kraft. Sie sind nicht vollkommen einheitlich, weil es die Bundesländer sind, die je nach Lage in ihrem Bundesland die entsprechenden Verordnungen erlassen.
Nach der ersten Schockstarre ließ die Reaktion nicht auf sich warten: Die Vorschriften ernteten Kritik und Gegenwehr. Seit Anfang April kam es zu Demonstrationen im ganzen Land, die größten mit jeweils mehreren zigtausend Teilnehmern fanden am 1. und 29. August in Berlin, am 3. Oktober am Bodensee sowie am 7. November in Leipzig statt. Dabei ging es zunächst vor allem gegen Versammlungsverbote, die Kritik wurde aber schnell grundsätzlicher und richtete sich gegen das Infektionsschutzgesetz und die darauf beruhenden Verordnungen. Dass sich später auch Verwirrte und Radikale wie etwa sogenannte Reichsbürger unter die Demonstranten mischten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Demonstrationen viele
Bürger erst wieder daran erinnerten, dass es auch für die Regeln in Pandemie-Zeiten selbe Regeln gibt: die Grundrechte.
Auch der Staat darf nicht alles
Weil sie für die Bundesrepublik Deutschland so wichtig sind, stehen die Grundrechte im Grundgesetz auch ganz am Anfang. Das ist eine der vielen Lehren aus der Nazizeit. Grundrechte gab es schon in der Weimarer Reichsverfassung, aber damals standen sie ganz weit hinten, was ihnen den Eindruck des „Unter ferner liefen" verschaffte. Die Väter des Grundgesetzes wollten dagegen auf den ersten Blick sichtbar machen, wie wichtig ihnen diese Grundrechte sind.
Grundrechte sind dabei nicht absolut unantastbar, aber jede Einschränkung muss besonders gerechtfertigt werden. Es war der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der als erster hochrangiger Politiker Ende April daran erinnerte. In einem Interview mit dem „Tagesspiegel" sagte er: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen."
So war das erste Corona-Jahr für viele auch eine Lehrstunde in Sachen Verfassungsrecht. Man lernte, dass der Eingriff in Grundrechte möglich ist, aber nur, wenn er verhältnismäßig ist. Für Juristen bedeutet das: Jeder Eingriff in Grundrechte muss erstens einen legitimen Zweck verfolgen, und dann gelten folgende drei Bedingungen: Der Eingriff muss geeignet sein, das Ziel, also den Gesundheitsschutz, zu erreichen, er muss das mildeste denkbare Mittel sein, also absolut erforderlich sein, und er muss in einem angemessenen Verhältnis zum Zweck der Maßnahme stehen. Ansonsten ist der Eingriff rechtswidrig. Das klingt nach viel Arbeit für Juristen, um diese Definitionen in der Praxis anzuwenden.
Später im Laufe des Jahres äußerten sich wichtige Verfassungsrechtler wie der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, kritisch zu den Grundrechtseinschränkungen durch die Corona-Maßnahmen: „Der Staat darf nicht in der allgemeinen legitimen Absicht, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, jedweden Grundrechtseingriff von beliebiger Schwere vornehmen", sagte er in einem Interview mit der „NZZ".
Dazu kann nun jeder seine Meinung haben, aber entscheidend ist letztlich, was die Gerichte sagen. So kam es dann auch im Laufe des Jahres zu der erwarteten und notwendigen Welle an Gerichtsverfahren. Hunderte von Klagen und Urteile folgten, in denen die Richter diesen Fragen nachgingen.
So reagierte des Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg schon am 23. März auf die Brandenburger Corona-Eindämmungsverordnung vom Tag zuvor. Hunderte von Gerichtsentscheidungen haben im Laufe des Jahres die Corona-Maßnahmen der Behörden maßgeblich mitgestaltet, weil Regelungen aufgehoben werden und auf die höchstrichterlichen Urteile Rücksicht genommen werden musste. Viele Urteile haben Maßnahmen bestätigt, aber es gab auch wichtige Entscheidungen, die Verwaltungsmaßnahmen aufgehoben haben. Besonders kritisch haben die Gerichte dabei die Sperrstunde oder absolute Versammlungsverbote gesehen, die wegen ihrer Rigorosität für unverhältnismäßig erklärt wurden. Auch die Beherbergungsverbote, die im Sommer erlassen worden waren, um die Menschen vom Reisen abzuhalten, wurden von Gerichten wieder gekippt.
Ausgangssperren, die zuletzt wieder verschärft wurden, schränken das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ein und sind entsprechend problematisch. Besonders hohen Schutz genießen die Grundrechte der Religions- und Versammlungsfreiheit, weswegen die Maßnahmen hier relativ vorsichtig blieben, wobei auch das umstritten war und es auch zu rechtswidrigen Eingriffen kam.
Schutz durch Gerichte ist enorm wichtig
Am 18. November beschlossen Bundestag und Bundesrat im Schnellverfahren eine wichtige Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Damit reagierte die Regierung, die die Gesetzgebung in Gang gebracht hatte, auf eine häufig geäußerte Kritik, wonach die Grundrechts-Eingriffe nur durch Verordnungen in Kraft gesetzt wurden, somit nur durch die Behörden. Das war problematisch, weil im Grundgesetz eigentlich steht, dass wenigstens die wichtigsten Grundrechte, also Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden darf. Das Infektionsschutzgesetz enthält in Paragraf 28 zwar eine sogenannte „Generalklausel". Das aber ist eine wackelige Rechtfertigung.
So haben die Parlamentarier dann einem neuen Paragraf 28a zugestimmt, in dem praktisch alle zuvor behördlich beschlossenen Anordnungen aufgelistet wurden. Ob das das verfassungsrechtliche Problem wirklich löst, bleibt aber umstritten. Immerhin haben sich nun die Volksvertreter selbst darum gekümmert, das war schon mal eine Verbesserung.
Klar jedenfalls ist, dass die Grundrechte derzeit nur eine Minderheit der Bevölkerung interessiert. Die übergroße Mehrheit der Menschen hält sie in der derzeitigen Lage für eine unwichtige, eher lästige Nebensache. Das allerdings war in früheren Zeiten bedrohter Grundrechte auch schon so. Genau darum gibt es sie aber, und darum ist ihr Schutz durch die Gerichte umso wichtiger.