2020 war auch ein Jahr der Proteste gegen die Pandemie-Beschränkungen. Die Demonstrationen wandelten sich vom bunten Treiben zunehmend zu einer Versammlung von Verschwörungstheoretikern, Reichsbürgern und Rechten. Der Verfassungsschutz schaute bald genauer hin.
Dass so ein Lockdown auch politisch etwas ganz Besonderes ist, wird den meisten Deutschen spätestens klar, als Finanzminister Olaf Scholz Anfang April sprichwörtlich „die Bazooka" rausgeholt und so bis zum Ende dieses Jahres Deutschland mit 220 Milliarden Euro in Sachen Neuverschuldung in völlig neue Dimensionen geschossen hat. Der Verfechter der schwarzen Null hat vorgelegt, das Volk legt nach: mit Protesten gegen die Pandemie-Maßnahmen.
Die erste genehmigte Demonstration findet bereits eine Woche vor Ostern, am 4. April, auf dem Rosa-Luxemburg-Platz vor der Volksbühne statt. Die Veranstalter sind völlig überrumpelt von dem Ansturm der Menschen, die Polizei im Übrigen auch. Bis Ende Mai ist jeden Samstag auf dem Rosa-Luxemburg-Platz richtig was los – und das trotz Lockdown und Kontaktbeschränkungen. Endlich, nach tristen Wochen in den eignen vier Wänden, haben die ersten Versammlungen etwas von nachgeholter Fastnacht und Tanz in den Mai.
Das Spektrum der Demonstrierenden reicht von ganz links bis nach ganz rechtsaußen. Da spaziert schon mal die Sozialistin Marie seelenruhig mit dem AfD-Landtagsabgeordneten Lars Günther aus Brandenburg in Gemeinsamkeit gegen die Pandemie-Maßnahmen. Die beiden kennen sich nicht, sind aber schnell voneinander und den politischen Gemeinsamkeiten sichtlich angetan.
Spätestens als die grüne Bundestagsabgeordnete Canan Bayram dazwischengeht und aufklärt, wer da eigentlich mit wem spricht, ist das Geschrei auf der sozialistischen Seite dann entsprechend groß.
Unerwünschte springen auf Zug auf
Viele andere geben sich bewusst unpolitisch, die Anrede im Frühling bei diesen Demonstrationen lautet „Bürger*in" und dann der Vorname. Als Erkennungssymbol wurde und wird immer noch ein Grundgesetz vorgezeigt. Zum damaligen Zeitpunkt will man noch an die bürgerliche Revolution vom März 1848 anknüpfen, als in Deutschland die Menschen eben für diese Grundrechte kämpften.
Bürgerin Larissa ist auch dabei, allerdings ohne Grundgesetz, dafür mit weißem Kittel. Die Bürgerin ist Zahnärztin und möchte einfach nur wieder in ihrer eigenen Praxis arbeiten dürfen, darum war sie hier. „Politik interessiert mich eigentlich nicht, ich muss meine Praxis abzahlen", sagt Larissa gegenüber FORUM. Doch spätestens bei ihrer vierten Demo ist denn auch Larissa reichlich irritiert über den „nationalen Drive", den die Demos unterdessen bekommen haben. Immer mehr Verschwörungstheoretiker mischen sich unter die „Bürger", der Videoaktivist Ken Jebsen dreht seine „Aufklärungsfilme", dazu gesellen sich plötzlich auch neue Strömungen wie „Widerstand 2020".
Eine der Ersten, die Konsequenzen zieht, ist Ellen Meyer. Die 60-Jährige kommt aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung und war auf der Straße in den Ostberliner Wendezeiten dabei. Doch das „nationale Deutschgetümmel" geht ihr gegen den Strich. Spätestens im Frühsommer hat sich das Demonstrationsgeschehen in Richtung Brandenburger Tor verlagert. Ellen Meyer macht fortan mutterseelenallein „Kreidekunst auf der Straße für die Einhaltung der Rechtstaatlichkeit" vor dem Kanzleramt und will mit den Großdemonstrationen nichts zu tun haben.
Ähnlich reagiert auch die Staatsrechtlerin Barbara von Gayling-Westphal von der Aktion „1 bis 19 Für Grundrechte und Rechtsstaat". Der Hamburgerin und ihren Mitstreitern gehen die Corona-Maßnahmen entschieden zu weit. Zwar sind diese im Sommer gelockert worden, aber noch immer sind nicht alle Bürgerrechte wiederhergestellt. An ihrer Seite bei der zweiten Demonstration vor dem Brandenburger Tor ist auch Oberstleutnant Utz Hennig von der Bundeswehr – allerdings nicht in Uniform. Als die beiden sich am Abend in den Fernsehnachrichten sehen, fallen sie fast vom Glauben ab. Denn dort werden sie in einem Atemzug mit den Reichsbürgern genannt. Darauf zieht ihre Demonstration vom Brandenburger Tor zum Denkmal „Grundgesetz 49" an die Spree um. Hier hat man zwar weniger Laufpublikum, aber dafür auch nicht die Gefahr, dass plötzlich „ungebetene Gäste in unserem Aufzug auftauchen", erklärt Utz Hennig im FORUM-Gespräch.
Was zuvor kaum jemand so richtig mitbekommen hat: Seit Jahren gibt es im Berliner Regierungsviertel ein wahres „Demonstrations-Ritual". Samstags alle zwei Wochen stehen die „Monarchistischen Reichsbürger" vor der russischen Botschaft. Eine Abspaltung von ihnen, die Gelbwesten mit ihrem Anführer Rüdiger Hoffmann, steht vor dem Reichstag. Dann gibt es seit fast vier Jahren immer um 18 Uhr den „Merkel-muss-weg-Mittwoch" mit dem AfD-Landtagsabgeordneten Franz Wiese aus Seelow vor dem Kanzleramt. Vor der US-Botschaft am Brandenburger Tor treffen sich jeden Samstag die Kämpfer gegen den US-Imperialismus von „Freiheit für Venezuela". Zum gleichen Zeitpunkt tanzen auf der Westseite des Brandenburger Tores die Gotteskinder von der Bewegung „Jesus lebt".
Private Streams statt Nachrichtensendung
Spätestens bei der Großdemonstration am 29. August gerät diese ganze Melange völlig aus den Fugen. Zum zweiten Mal hat „Querdenken 711" nach Berlin geladen, und sofort sind alle nur denkbaren Gruppierungen mit auf den Zug aufgesprungen. Zu den üblichen Demonstranten gesellen sich dann bei strahlendem Sonnenschein und erträglichen 28 Grad auch noch zahlreiche Esoteriker und Yoga-Gruppen. Auf der Wiese dicht am Brandenburger Tor tummeln sich halbnackt die Menschenkinder von „Liebe Tanzen", psychedelische Weltverschwörer kampieren vor dem sowjetischen Ehrenmal. Dazu unüberschaubare Menschenscharen aus der Mitte der Gesellschaft. Unter ihnen zum Beispiel das Ehepaar Dr. Inge und Jürgen Hanisch. Der Wirtschaftswissenschaftler von der Freien Universität fühlt sich an seine Jungendtage im alten Westberlin erinnert und will sich das Spektakel doch auch mal aus der Nähe angucken. „Was mich geärgert hat dann abends in den Nachrichten, dass die von 20.000 Teilnehmern gesprochen haben. Das war mindestens das Zehnfache an Menschen, wenn nicht noch weit mehr." Eine weitere Besonderheit dieses Demonstrations-Sommers: Es gibt bis zum heutigen Tag keine verlässlichen Teilnehmerzahlen, was relativ einfach mit den Abstandsregelungen zu erklären ist. Laut Rechnungen der Berliner Polizei passen bei Einhaltung aller Hygieneregeln etwa 20.000 Menschen auf die Demonstrationsstrecke zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor. Lange nicht alle Teilnehmer der Großdemonstration befinden sich aber in eben diesem Demo-Zug. Die Aufmärsche, für den Beobachter kaum voneinander zu trennen, werden nämlich für sich alleine gerechnet und nicht in Gänze.
Dass bei einem dieser Demonstrations-Geschehen Ende August ein Trupp von hundert Leuten auf die Treppe des Reichstages gelangt, sei hier nur aus Chronistenpflicht erwähnt, denn eine tatsächliche Gefahr für die parlamentarische Demokratie hat nie bestanden. Nicht nur für politische Beobachter ärgerlich: Mit dieser Aktion ist einer Splittergruppe um den oben genannten Rüdiger Hoffmann und der Heilpraktikerin Tamara K. eine Aufmerksamkeit zuteil geworden, die sie unter normalen Umständen kaum bekommen hätten.
Eine Tatsache, die in einer weiteren Auffälligkeit des Demonstrationsjahres 2020 mündet: Die mediale Öffentlichkeit hat sich „privatisiert". Statt öffentlich-rechtlicher Medien sieht man bei den Demo-Zügen immer mehr leuchtende Smartphones und erhobene Selfie-Sticks. Denn bei den Demos wird gestreamt, dass sich die Sendemasten der Mobilfunkanbieter geradewegs zu biegen beginnen. Jeder hat seine Follower, die ihm bei den Demos über Facebook, Youtube und Co. folgen.
Bestes Beispiel dafür ist wohl die Demonstration Ende November zwischen dem Reichstagsgebäude und dem Brandenburger Tor: Wieder sind es vermutlich um die 20.000 Teilnehmer. Doch medial wird die Demonstration auf allen Kanälen, auch bei ARD und ZDF, befeuert, als stünde die Revolution direkt bevor. Da die Auflagen des angemeldeten Aufzugs nicht eingehalten werden, also weder Abstand gehalten noch Mundnasenschutz getragen wird, versucht die Polizei die Demonstration aufzulösen und setzt Wasserwerfer ein. In Berlin ist das seit Ende der 60er- und 80er-Jahre nicht wirklich etwas Neues. Aber dank des medialen Trommelfeuers auf allen Kanälen entstand der Eindruck, zwischen Brandenburger Tor und Reichstag geschehe gerade Unvorstellbares.