Fast zeitgleich haben jüngst zwei Unternehmen die Ziellinie im größten wissenschaftlichen Wettlauf der Geschichte überschritten und durch die Präsentation erster wirksamer Impfstoffe gegen das Virus die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zur Normalität geschürt.
Die Britin Margaret Keenan schrieb am frühen Morgen des 8. Dezember Geschichte, denn die 90-Jährige erhielt im Coventry Universitätsklinikum als erste Britin weltweit eine Injektion mit einem wissenschaftlich geprüften und zugelassenen Corona-Impfstoff. Ermöglicht wurde der britische Frühstart durch eine staatliche Notfallzulassung, während die EU für die Absegnung des vom Mainzer Unternehmen Biontech entwickelten Impfstoffs „BNT162b2" weitestgehend den verbindlichen Zulassungsweg eingehalten hat. Dabei hatten die EU beziehungsweise die dafür zuständige Europäische Arzneimittelagentur EMA schon gewisse Zugeständnisse gemacht. Etwa eine sogenannte bedingte Zulassung, mit der Medikamente schon vor Abschluss der vollständigen klinischen Prüfung auf den Markt gebracht werden dürfen, oder die Möglichkeit zu einem beschleunigten Verfahren namens „Rolling Review", bei dem nicht alle notwendigen Unterlagen komplett bei der Zulassungsantragstellung vorliegen müssen, sondern sukzessive ergänzt werden können. An der Vorgabe, dass alle Impfstoffkandidaten die international vorgeschriebenen klinisch dreiphasigen Testreihen mit einer je nach Versuchsstadium wachsenden Zahl von Probanden zu durchlaufen hatten, wurde jedoch aus Sicherheitsgründen nicht gerüttelt.
Biontech hatte sich für Vertrieb und Logistik seines Impfstoffs schon im Frühjahr mit dem US-Pharmariesen Pfizer zusammengetan, der die Mainzer Forschung auch mit viel Geld unterstützt hatte. Da Biontech/Pfizer kurz nach Großbritannien auch in Kanada, Bahrein, Israel und den USA die Marktzulassung für ihren Impfstoff erhalten hatten – in den USA am 11. Dezember, in Israel wurde der
27. Dezember als Starttermin für die Impfkampagne festgelegt – kann das Konsortium als Sieger im globalen Wettlauf um einen vor Corona schützenden Wirkstoff angesehen werden.
Im März 2020, als weltweit die Forschung an einem Corona-Impfstoff aufgenommen wurde, hatten wohl nur große Optimisten einen solch schnellen Erfolg für möglich gehalten. Zur Entwicklung eines neuen Impfstoffs werden sonst üblicherweise mindestens zehn Jahre benötigt. Bei Corona konnten die Forscher allerdings von den Erkenntnissen und Vorarbeiten profitieren, die sie bei der Analyse der verwandten Viren Sars und Mers schon gewonnen hatten. Für die EU kam eine positive Zulassungs-Entscheidung der EMA zugunsten von Biontech Mitte Dezember, Impfbeginn sollte EU-weit am 27. Dezember sein. Zu Beginn des kommenden Jahres könnten dann Massenimpfungen anlaufen.
Zwölf Testreihen in der letzten Phase
Dass ausgerechnet ein deutsches Unternehmen den Prestigeerfolg für sich verzeichnen kann, dürfte kein Zufall sein. An den mindestens 227 Corona-Impfstoffprojekten, die aktuell laut dem in Berlin ansässigen Verband Forschender Arzneimittelhersteller weltweit laufen, sind deutsche Unternehmen gleich elfmal beteiligt. Die erst in Testphase zwei befindliche Tübinger Firma Curevac des auch in Fußballkreisen bekannten Dietmar Hopp wird dabei als größter hiesiger Impfstoff-Hoffnungsträger nach Biontech gehandelt.
Global befinden sich derzeit bereits zwölf Testreihen in Phase drei mit jeweils Zehntausenden Probanden, beziehungsweise haben diese wie Biontech/Pfizer und Moderna bereits durchlaufen. Das weckt berechtigte Hoffnungen auf baldige weitere marktzulässige Impfstoffe zur Corona-Bekämpfung. Der US-Konzern Moderna hatte die Zulassung für seinen Impfstoff „mRNA-1273" am
30. November in den USA und in der EU eingereicht, in Europa übrigens am selben Tag wie Biontech. Man kann davon ausgehen, dass der Moderna-Impfstoff in den USA und in der EU etwa zeitgleich oder nur wenige Tage nach Biontechs Wirkstoff zur Corona-Prävention auf den Markt kommen wird. Neben diesen beiden Protagonisten gibt es Ende 2020 einen dritten Impfstoffkandidaten namens „AZD1222", der von einem Team der Universität von Oxford für den schwedisch-britischen Pharma-Konzern Astrazeneca entwickelt wurde. In Indien hat Astrazeneca am 7. Dezember zeitgleich mit Biontech bereits einen Antrag auf Notfallzulassung gestellt, in der EU befindet sich die Prüfung noch in der „Rolling Review"-Phase.
Was die Art des Impfstoffs betrifft, so sind die Wirkstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna deckungsgleich. Beide setzen auf eine neuartige, genbasierte Technologie namens „mRNA". Dabei werden im Unterschied zu herkömmlichen Impfstoffen keine Krankheitserreger zur Bildung von Antikörpern injiziert, sondern der Impfstoff enthält synthetisch hergestellte genetische Informationen des Erregers in Form von DNA, was zunächst den Körper zur Bildung eines ungefährlichen Virusproteins veranlassen und dann zur Bildung von Antikörpern gegen diesen Fremdeindringling anregen soll. Sowohl Biontech/Pifzer als auch Moderna meldeten einen hohen Wirksamkeitsgrad von 95 beziehungsweise 94,5 Prozent. Beide Impfstoffe müssen in zwei Dosen verabreicht werden, für beide sind bislang keine schweren Nebenwirkungen bekannt. Die Preise pro Dosis wurden auf 20 bis 25 Dollar taxiert, in Deutschland soll die Impfung für die Bürger allerdings kostenlos sein. Der Impfstoff von Biontech/Pfizer muss bei minus 70 Grad gelagert werden, der von Moderna soll bei Kühlschranktemperatur bis zu 30 Tage lang stabil bleiben. Über die Dauer der Immunisierung gibt es noch keine verlässlichen Angaben. Astrazeneca benutzt einen Vektorimpfstoff, bei dem harmlose Viren mit Corona-Bestandteilen bestückt werden, um eine gezielte Immunabwehr dagegen auszulösen. Der Wirkungsgrad wurde mit rund 70 Prozent angegeben, Vorteil des Astrazencea-Impfstoffs ist sein günstiger Preis von wenigen Dollar pro Dosis, außerdem kann er dauerhaft bei normalen Kühlschranktemperaturen aufbewahrt werden.
Unklar, wie lange Immunisierung hält
Westliche Gesundheitsexperten stufen die bereits ab Oktober/November in China und Russland begonnenen Corona-Massenimpfungen als ziemlich bedenklich ein, weil damit teilweise schon vor Abschluss der dritten Testphase begonnen wurde. Auch liegen für die Impfstoffe von chinesischen Unternehmen wie Sinovac Biotech oder des russischen Gamaleya-Forschungszentrums mit dem Impfstoff „Sputnik V" noch keine aussagekräftigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen vor. Der von Gamelaya beim Start einer großem Impfkampagne in der Hauptstadt Moskau Anfang Dezember genannte Wirksamkeitsgrad von 92 Prozent kann daher nicht überprüft werden.
In der EU und in den führenden Industrienationen ist schon jetzt ein Impf-Nationalismus absehbar, weil jedes Land sich möglichst viele Impfdosen sichern möchte. Zwar wurde in der EU eine an die Bevölkerungszahl gekoppelte Zuteilung vereinbart, wonach Deutschland gut 18 Prozent der von der EU reichlich vorab bestellten Impfdosen erhalten wird. Aber wenn Biontech oder Moderna vor dem offiziellen EU-Impf-Countdown ihre verfügbaren Mengen schon weltweit anderweitig ausgeliefert haben sollten, werden viele EU-Bürger zwangsläufig auf der Impf-Wartebank Platz nehmen müssen. Gesundheitsminister Jens Spahn musste schon zurückrudern in seinen Versprechungen, welche Impfstoff-Mengen Anfang 2021 für die Bundesrepublik zur Verfügung stehen werden. Zuletzt war nur noch von Massenimpfungen „spätestens im Sommer" die Rede – falls bis dahin die von der Ständigen Impfkommission zu besonderen Risikogruppen deklarierten Bevölkerungsteile wie die Bewohner von Senioren- und Pflegeheimen sowie die Über-80-Jährigen an die Reihe gekommen sein sollten. Bis Ende März dürften daher für keine anderen Bundesbürger Impfdosen zur Verfügung stehen.