In der Corona-Krise 2020 verfolgte der 1. FC Union Berlin hinsichtlich der Einlassbeschränkungen bei Heimspielen mal wieder eine eigene Linie – und nahm es dabei sogar mit der Bundespolitik auf.
Selbst ein Mann wie Christian Streich, der gern klar Position bezieht, konnte sich in diesem Fall nicht zu einer eindeutigen Aussage durchringen. „Das ist ein schwieriges Thema", befand der Trainer des SC Freiburg Ende Oktober nach dem Gastspiel seiner Mannschaft beim 1. FC Union Berlin. Die Partie an der Alten Försterei war mit der Auflage einer limitierten Zuschauerzahl – letztlich 4.400 Besucher – über die Bühne gegangen. Vier Partien jenes 5. Spieltags wurden hingegen vor leeren Rängen durchgeführt, bei weiteren dreien lag die erlaubte Zahl lediglich im dreistelligen Bereich. Ob die Durchführung im Stil einer Großveranstaltung mit Hygienekonzept also in letzter Konsequenz vernünftig war in Zeiten der Corona-Pandemie, darin schieden sich die Geister – gerade in der Bundeshauptstadt, die zu diesem Zeitpunkt als ein Hotspot der Virusverbreitung eingestuft worden war. Doch die Verantwortlichen des 1. FC Union blieben ihrer Linie treu: Gibt es keine eindeutige, generelle Weisung auf bundespolitischer Ebene, sollte Fans unter Einhaltung des Hygienekonzepts der Zutritt zu Heimspielen in größtmöglicher Zahl gewährt werden.
Dieser eigene Umgang mit der Zulassung von Besuchern im Stadion brachte dem 1. FC Union diesmal allerdings mehr Kritik als gewöhnlich ein. Schon als es im Vorfeld der Ligaunterbrechung beim Lockdown im März zur Diskussion über dieses Thema kam, sorgten die „Eisernen" – und allen voran ihr Vorsitzender – für Aufregung. Dirk Zingler habe, so der Tenor in den Medien, keinen Geringeren als Jens Spahn in dieser Frage öffentlich in die Schranken gewiesen – der Bundesgesundheitsminister hatte seinerzeit angesichts der angespannten Lage ohne bundesweite Regelung eine Absage von Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Besuchern angeregt. Doch nicht mit dem Union-Chef: „Herr Spahn kann uns nicht empfehlen, den Betrieb einzustellen", wurde Zingler unter anderem zitiert. Auch der Hinweis, dass ausschließlich das Gesundheitsamt Treptow-Köpenick – und nicht die oberste Bundesbehörde – in der Sache für den Verein weisungsbefugt sei, mag auf den ersten Blick durchaus grotesk erschienen sein. Es entsprach zu dem Zeitpunkt, an dem die Bundespolitik noch keine deutschlandweiten Regelungen für Großveranstaltungen verfügt hatte, allerdings schlicht den Tatsachen. Zingler, der wie alle Unioner auf eine stimmungsvolle Kulisse im anstehenden ersten Pflichtspiel an der Alten Försterei gegen Bayern München hoffte, betonte dabei auch den wirtschaftlichen Aspekt: „Als Arbeitgeber mit rund 180 Mitarbeitern wird uns die Unternehmensgrundlage entzogen." In der Sache also insgesamt nachvollziehbar, im Sprechen und Handeln in Anbetracht der Umstände eher wenig anpassungsbereit. Doch Diplomatie wurde bei den Eisernen eben noch nie groß geschrieben – dafür werden sie verehrt oder angefeindet.
„Wir haben ja niemanden aufgefordert, hier zu singen"
Am Ende sollte sich die Diskussion jedoch ohnehin als Lärm um nichts herausstellen: denn als sich die Corona-Zahlen in Deutschland während der betreffenden Woche im März weiter verschlechterten, wurde – erstmals in der Geschichte der Fußball-Bundesliga – gleich der gesamte Spieltag abgesagt und in der Folge eine Unterbrechung der Saison 2019/20 verfügt. Bei den „Geisterspielen" nach dem Re-Start der Bundesliga musste die Polizei rund um die Alte Försterei immer wieder auch Fans Platzverweise erteilen, die sich dort in der Regel in zweistelliger Zahl zum Anfeuern von außerhalb des Stadions zusammenfanden. Vorfälle, die kritisch beäugt wurden, aber sicher im niederschwelligen Bereich der Verfehlungen einzuordnen sind – selbst die „Irre Parkplatzparty nach dem Klassenerhalt" (Schlagzeile der „Bild") Mitte Juni erwies sich bei genauerem Lesen als spontan entstandene Zusammenkunft von einigen Spielern und Fans. Dirk Zingler nutzte diese zu einer emotionalen Rede, in der er unter anderem versprach: „Wir werden uns dafür einsetzen, dass Fußball wieder mit Menschen stattfindet." Daran arbeitete allerdings auch die DFL fieberhaft, aufgrund eines akribisch ausgearbeiteten Hygienekonzepts konnte der Profifußball in Deutschland – und so auch der 1. FC Union – mit einer begrenzten Zahl an Zuschauern pro Partie im September in die neue Spielzeit starten. Für das Stadion An der Alten Försterei lag dieses Limit bei etwa 4.500 Besuchern – die dann auch zu den ersten Spielen gegen Augsburg und Mainz kamen. Mit den Anfeuerungen wie eh und je sollte es jedoch bald vorbei sein: Der Berliner Senat erließ ein Verbot von Fangesängen und Sprechchören bei Sportveranstaltungen ab Oktober. Ausgerechnet in einem Testspiel gegen Zweitligist Hannover 96 (8. Oktober) allerdings wurde diese Auflage von den knapp 1.800 Besuchern weitgehend ignoriert – doch von Vereinsseite zeigte man sich gewohnt widerspenstig. Geschäftsführer Christian Arbeit stellte die Nachvollziehbarkeit der Regeln infrage – und ein strafbares Versagen des Vereins obendrein: „Wir haben ja niemanden aufgefordert, hier zu singen."
Doch in diesem Fall wurde das Beharren auf Eigenständigkeit und Eigenverantwortung zum Eigentor. Das merkten vielleicht auch die Verantwortlichen: Zum folgenden Heimspiel gegen Freiburg hielten sich die Fans jedenfalls an die offizielle Auflage, Gesänge und Sprechchöre zu unterlassen – und sorgten dafür mit allen erdenklichen Lärminstrumenten für Stimmung. Die wieder drastisch gestiegenen Corona-Fallzahlen bewogen jedoch auch einige, der Partie freiwillig fernzubleiben – so, wie auch die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) in einem öffentlichen Appell im Vorfeld ihrerseits um Eigenverantwortung gebeten hatte. Trotz 11.500 Dauerkarteninhabern gingen jedenfalls von den 4.500 Tickets noch einige in den freien Verkauf. Union-Boss Zingler versprach derweil in einem offenen Brief, es bestünde „kein Grund zur Sorge, dass wir unseren moralischen Kompass verloren hätten". Der gegen Ende des Jahres wieder bundesweit verfügte komplette Zuschauerausschluss jedoch gestattete auch den Köpenickern in dieser Thematik keine Selbstständigkeit mehr. Gleichwohl bleiben die Gedanken in der Wuhlheide frei – so verlieh Dirk Zingler seiner Hoffnung Ausdruck, „dass wir in gemeinschaftlicher gesellschaftlicher Anstrengung die Corona-Krise bewältigen und uns beim Suchen nach den richtigen Wegen wieder mit mehr Neugier und Offenheit begegnen". Was zunächst wie ein versöhnlicher Neujahrsgruß klingt, wird dabei zwischen den Zeilen gelesen zu dem Versprechen: Der 1. FC Union wird auch 2021 seinen eigenen Kopf behalten.