Zu Beginn der Pandemie im Frühjahr haben praktisch alle Regierungen in Europa Grenzkontrollen eingeführt oder Grenzen sogar komplett geschlossen. Danach war schnell klar: Diese
Krisen-Maßnahme hat wenig gebracht und viel geschadet.
Politiker tun sich immer schwer damit, Fehler zuzugeben. In diesem Fall aber waren sich viele sehr einig: Die Grenzschließungen als erste Reaktion auf die Corona-Pandemie waren ein Fehler. Da diesen alle gemeinsam begangen hatten, fiel ihnen das Zugeständnis relativ leicht.
So sagte Bundesaußenminister Heiko Maas im Oktober: „Ich glaube, wir haben im Frühjahr dieses Jahres alle schlechte Erfahrungen gemacht mit der zu schnellen Schließung von Grenzen – sowohl an der deutsch-polnischen als auch an der deutsch-französischen Grenze.“ Deshalb wolle man „die gemachten Fehler nicht noch einmal wiederholen“, so Maas nach einem Treffen mit den französischen und polnischen Amtskollegen.
Angela Merkel sagte im Sommer, es sei „wichtig, dass die Grenzen offenbleiben“. Grenzschließungen müssten „politisch um jeden Preis vermieden werden“. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz klang ähnlich: „Eine Schließung der Grenzen wäre eine Ultima Ratio, die jetzt keiner will.“ Er warnte vor schweren Folgen für die eng verwobene Wirtschaft, es sei „ein ganz wesentlicher Aspekt, dass die Grenzen offenbleiben“.
Da sie die wochenlangen Grenzschließungen im Frühjahr schon nicht hatte verhindern können, pochte die EU-Kommission für die Zukunft wenigstens auf ein europäisch abgestimmtes Vorgehen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte: „Wir haben gesehen, dass das Schengenabkommen auf der Kippe stand und ernsthaft in Gefahr war, als es viele nationale Alleingänge gab. Der Stau an den neu errichteten Grenzen hat allen geschadet.“
Staus als Zeichen der Hilflosigkeit
Praktisch überall in Europa gingen im März die Schlagbäume runter, zwischen Schengen-Staaten und Drittstaaten ohnehin. Manche Grenzübergangsstellen wurden komplett dichtgemacht, an anderen wurde strikt nach den jeweiligen Ausnahmegenehmigungen kontrolliert, die nur wenige bekamen: Pendler und bestimmte systemrelevante Berufsgruppen. Die Ein- und Ausreise nach Österreich, Luxemburg, Frankreich, Dänemark und in die Schweiz war im Frühjahr nur noch mit einem triftigen Grund möglich. Nach Polen und Tschechien waren die Grenzen zeitweise ganz geschlossen; die dortigen Regierungen ließen nur eigene Staatsbürger einreisen sowie Personen mit Sondergenehmigung. Allein die Niederlande handhabten den Grenzübertritt etwas liberaler. In der deutsch-schweizerischen Grenzstadt Konstanz wurden im Frühjahr an der Grenze Gitter auf die grüne Wiese gestellt, sogar doppelt und mit zwei Metern Abstand dazwischen, damit sich die Menschen, darunter künstlich getrennte Paare, nicht durch den Zaun berühren konnten. So blieb den Ausgegrenzten nichts anderes übrig, als sich auf Abstand etwas zuzurufen und zu winken.
Dabei gab es genau genommen gar keine „Grenzschließungen“ zwischen Schengen-Staaten, wie die Bundespolizei betont. Rechtlich handelte es sich immer „nur“ um Grenzkontrollen. Im Falle von geschlossenen Übergängen ging es um eine „Kanalisierung des grenzüberschreitenden Verkehrs“.
Die Folgen waren klar: Es kam überall in Europa zu stundenlangen Staus, Lkw reihten sich viele Kilometer bis ins Hinterland. Manche mussten bis zu 18 Stunden warten, bis sie drankamen. Die Bilder dieser Staus demonstrierten die Hilflosigkeit, mit der die EU auf die Corona-Krise reagierte: jeder für sich, und dann noch mit relativ sinnlosen Aktionen. Als die Landwirte darauf aufmerksam machten, dass ihre Ernte ohne die Saisonarbeiter auf den Feldern zu verfaulen drohte, wurden in übereilten Hauruck-Aktionen Tausende Erntehelfer mit Chartermaschinen eingeflogen.
Gebracht haben die Grenzschließungen ganz offensichtlich wenig, denn die Ausbreitung der Pandemie wurde durch sie nirgendwo gestoppt. Corona hat sich im Laufe des Jahres relativ gleichmäßig in Europa ausgebreitet und ist inzwischen längst überall heimisch. An Grenzen machte das Virus nirgends halt.
So kam es im Herbst in der zweiten Welle auch zu keiner generellen Neuauflage, jedenfalls nicht auf deutscher Seite. Derzeit haben nur Dänemark und Tschechien ihre Grenzen für deutsche Urlauber zugemacht. Für eine Frankreich-Reise braucht man einen triftigen Grund, wozu der Tourismus nicht zählt. Umgekehrt sind die deutschen Grenzen für Ausländer derzeit grundsätzlich offen.
Stattdessen herrscht nun das „Prinzip Quarantäne“. Als Einreisender aus vielen Ländern, die als Risikoregionen gelten, muss man erst einmal zehn Tage in häusliche Isolation. Das bremst zwar den Grenzverkehr, stoppt ihn aber nicht komplett. Seit Anfang November muss man sich über eine digital vernetzte Einreise-Webseite anmelden, wenn man sich in einem Risikogebiet aufgehalten hat.
„Einschränkungen der Reisefreiheit erfolgen in Europa nun nicht mehr über Grenzschließungen (zumeist Kompetenz der Innenministerien, Anm. d. Red.), sondern weitestgehend über die Gesundheitsministerien, also Quarantäneverordnungen oder Ähnliches“, sagt Politikwissenschaftler Daniel Schade von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
Die Realität ist längst eine Andere
Nicht nur, dass sie wenig gebracht haben. Die Grenzschließungen waren zudem vor allem ein Affront gegen das wichtige Abkommen von Schengen, das die Grenzkontrollen zwischen den meisten EU-Ländern und einigen darüber hinaus ab 1995 abgeschafft hat. Für die EU-Kommission steht mit der Reisefreiheit ohne Grenzen „eine der größten Errungenschaften des gemeinsamen Europas“ auf dem Spiel. Da dürfte sie Recht haben. Der freie Grenzübertritt ist eine der wichtigsten und populärsten Errungenschaften der EU. Rein rechtlich erlaubt der Schengen-Kodex Grenzkon-trollen nur noch „ausnahmsweise“, wenn die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit eines Mitgliedstaats sie erfordern. Entscheidend aber ist dabei, dass die Grenzkontrollen verhältnismäßig und auf das absolut notwendige Maß begrenzt bleiben. Die Realität ist längst eine andere: Faktisch dauern viele Einschränkungen seit 2015 bis heute an. Aus der Ausnahme ist die Regel geworden. Was dabei oft beklagt wird, ist die mangelnde Koordination der Regierungen. „Grundsätzlich sehe ich weiterhin das Problem der fehlenden Koordinierung der Maßnahmen auf europäischer Ebene“, sagt Politologe Schade. Zwar gebe es jetzt die Regelung auf einheitliche Regeln, nach denen Risikogebiete innerhalb der EU bewertet werden. „Aber die darauffolgenden Maßnahmen sind weiterhin nicht koordiniert. Das schwächt das Schengen-System auch weiterhin, und ist vermutlich im Hinblick auf die Eindämmung der Pandemie auch nicht unbedingt zielführend.“
Da man nun generell zur Quarantäne-Lösung übergegangen ist, ist eine erneute harte Grenzschließung wegen Corona unwahrscheinlich. Reisen sei zwar weiterhin schwerer als sonst, jedoch gebe es keine grundsätzlichen Verbote zur Einreise aus bestimmten EU-Staaten mehr, so Politikwissenschaftler Schade. „Aufgrund dessen glaube ich auch nicht, dass es zu erneuten weiteren tatsächlichen Grenzschließungen kommt.“
Eine ganz andere Sache ist die Schließung der Außengrenzen der EU. „Hier ist es mittlerweile so, dass die Einreise auch aus Gebieten mit sehr viel niedrigerer Covid-Prävalenz als in der EU nicht möglich ist, da die Grundregel aus dem Juli und August weiterhin besteht.“
Ganz vorbei dürfte es mit den Grenzkontrollen aber nicht sein. Im Dezember führte Bayern wieder Kontrollen ein und verbot den „kleinen Grenzverkehr“ nach Tschechien und Österreich. Schluss also mit dem billigeren Tanken im Ausland. Es sei denn, man geht danach zehn Tage in Quarantäne.