Nun ist es amtlich: Es gibt einen Brexit-Vertrag zwischen der EU und Großbritannien. Wie üblich sind beide Seiten nicht vollends zufrieden. Aber das ganz große Chaos ist abgewendet. Wohin die britische Insel wirtschaftlich nun steuert, ist unklar – die Risiken sind enorm.
Boris Johnson ist zufrieden: Er hat einen gewaltigen Sieg errungen, der Handelsvertrag mit der Europäischen Union ist unter Dach und Fach. Endlich kann Großbritannien frei von der EU-Knechtschaft am globalen Markt Handelsdeals abschließen, muss kein Geld mehr an Brüssel abtreten. So jedenfalls stellt es sich aus Sicht des ehemaligen Bürgermeisters von London dar, der sich trotzdem immer wieder beeilt, zu versichern, das Vereinigte Königreich bleibe bester Freund und Partner der EU. Auch die rechtskonservative „Sun" feierte den, laut Boris Johnson, jährlich 660 Milliarden Euro schweren Deal als großen Sieg der Regierung, weil er Zölle abwende und die Souveränität Großbritanniens wiederherstelle.
Auf der anderen Seite des Ärmelkanals feierte sich die EU, weil sie hart geblieben ist bis zuletzt, Zugeständnisse zum Beispiel bei den Fischereirechten in der Nordsee rund um die britischen Inseln nur zentimeterweise machte und in der lange umstrittenen Nordirland-Frage einen Durchbruch erzielte.
Ab sofort alleine auf der Weltbühne
Doch es gibt auch Kritiker. Vor allem die schottische Premierministerin Nicola Sturgeon nutzte den Fischerei-Kompromiss, um erneut auf gebrochene Versprechen der Londoner Regierung aufmerksam zu machen. Ein Scheitern der Gespräche hätte einem erneuten Unabhängigkeitsreferendum Schottlands enormen Auftrieb gegeben. Auch diese Gefahr hat der Last-Minute-Deal mit der EU für Johnson abgewendet, erst einmal. Doch die Feuer sind noch nicht alle ausgetreten. Die Schotten wählten bei der Abstimmung über Verbleib oder Austritt aus der EU mit überwältigender Mehrheit für „Remain", also den Verbleib. Eine Unabhängigkeit und ein Eintritt in die EU jetzt durchzuboxen würde den Schotten jedoch einen hohen Preis abverlangen, 60 Prozent des Außenhandels wickelt das Land mit dem Rest Großbritanniens ab. Im Mai wird in Schottland wieder gewählt. Sturgeon kann durchaus mit einem Erdrutschsieg rechnen – und Boris Johnson mit weiteren Querschüssen aus Edinburgh. Denn laut Umfragen liegt die Zustimmung für einen Austritt aus dem Königreich derzeit bei konstant über 50 Prozent.
Und dann ist da noch Irland. Die in einen britisch kontrollierten Nordteil und die Republik im Süden geteilte Insel kann aufatmen, einerseits. Das bereits Anfang Dezember vereinbarte Nordirland-Protokoll sichert ihr einen „weicheren" Brexit zu. Damit gehört der Norden rechtlich noch zum Binnenmarkt der Europäischen Union. Andererseits hat sich Premier Johnson vom Parlament zusichern lassen, dass künftige Minister „ungeachtet" nationaler und internationaler Gesetze davon abweichen können – das neue britische Binnenmarktgesetz hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst und könnte international anfechtbar sein, denn damit begeht Großbritannien internationalen Vertragsbruch mit Ansage. Innenpolitische Verwerfungen, Rücktritte und scharfe Attacken gegen Johnson waren die Folge. Das Parlament Nordirlands hat denn auch den Brexit-Vertrag abgelehnt, genauso wie das schottische. Beide haben aber keinerlei Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess in London, für Außenpolitik ist die Zentralregierung verantwortlich.
Der linksliberale „Guardian" bezeichnete den Brexit als „schlechteste Entscheidung der Moderne". Die Erzählung der Brexiteers von einem glorreichen Morgen sei das einzige, was diese zu bieten hätten. Und die Hoffnung auf einen lukrativen Deal mit den USA habe sich spätestens nach der Abwahl Donald Trumps zerschlagen, schreibt der überzeugte Pro-Europäer Michael Heseltine, Tory-Urgestein und stellvertretender Premierminister in der Regierung von John Major. Das hinderte die Regierung jedoch nicht, schon jetzt Freihandelsverträge zu schließen – dann eben mit anderen, zum Beispiel mit der Türkei. Das kann Großbritannien, die ehemalige Nummer zwei der EU-Volkswirtschaften nach Deutschland, Atommacht, Nato-Mitglied, ständiges UN-Sicherheitsratsmitglied nun selbst entscheiden, unabhängig von der EU. Die konservativen Hardliner bei den Torys feiern dies als „Ende der Unterjochung", wie der Abgeordnete Bill Cash jubilierte. Zurück zu alter Größe auf der Weltbühne?
Querschüsse aus Schottland, Wales und Nordirland
Skepsis ist angebracht. Die EU sieht sich als Gegenentwurf zur „Wir zuerst"-Perspektive der Briten, die in 48 Jahren EU-Mitgliedschaft von Anfang an auf Sonderrechte pochten: kein Euro, stattdessen britisches Pfund; kein Schengen-Raum, stattdessen Grenzkontrollen; kein reiner Nettozahler in den EU-Haushalt, stattdessen der „Britenrabatt"; kein gemeinsames Militär, nur ein bisschen Zusammenarbeit in Innen- und Justizpolitik, die Liste ließe sich fortsetzen. Der Impuls, die Union immer auf Armeslänge Abstand zu halten, war also nie ganz verschwunden. Heute jedoch sieht sich ein von der EU gelöstes, auf sich gestelltes Vereinigtes Königreich mit einer Welt konfrontiert, deren Fliehkräfte zwischen Unilateralismus – personifiziert in den Präsidenten Trump, Bolsonaro in Brasilien, Erdogan in der Türkei, nun auch Johnson – und Multilateralismus – sichtbar in der EU, auf Ebene der Vereinten Nationen – hin- und herwandern. 66,6 Millionen Einwohner erwirtschaften ein Bruttoinlandsprodukt von 2,83 Billionen US-Dollar. Die Zahlen sind vergleichbar mit jenen Frankreichs, ebenfalls Atommacht und UN-Sicherheitsratsmitglied. Anders als Großbritannien besitzt aber Frankreich zollfreien Binnenmarktzugang zu dem 450-Millionen-Einwohner-Markt der EU. Außerhalb der EU befindet sich Großbritannien im Wettbewerb mit Handelsriesen wie den USA und China. Es bleibt fraglich, mit welchen Mitteln Johnson oder künftige Regierungen britische Interessen in Verhandlungen mit diesen Schwergewichten durchsetzen können, welche Vorteile die britischen Inseln für künftige Investoren bieten mögen – etwa noch stärkere Steuererleichterungen? Zunächst unwahrscheinlich, da es laut Finanzminister Rishi Sunak im kommenden Jahr Geld regnet, vor allem für das marode Gesundheitssystem NHS. Die Schuldenquote des Landes liegt laut Eurostat bei 85,9 Prozent, vergleichsweise komfortabel, aber die Staatsausgaben steigen pandemiebedingt. Welche kurz- bis mittelfristigen Auswirkungen der Brexit daraufhin auf die Wirtschaft und die Steuereinnahmen hat, ist unklar.
Auch ohne Pandemie fährt die Londoner Regierung wirtschaftlich also mehr auf Sicht. Der erste und hoffentlich einzige Austritt eines Landes aus der EU nach 48 Jahren – übrigens auf den Tag genau – wird von allen anderen Euroskeptikern, ob in Polen oder Ungarn, sicher mit Argusaugen beobachtet. Ob das Versprechen einer glorreichen Zukunft ohne EU gehalten werden kann, hängt vor allem von Johnsons Kraft ab, das Königreich wieder zu vereinen. Denn selbst im königstreuen Wales gibt es mittlerweile eine kleine, aber in den vergangenen Wochen plötzlich rasch wachsende Unabhängigkeitsbewegung. Das Vertrauen vieler Briten hat Johnson erst einmal verspielt.