1.200 Seiten umfasst der Brexit-Vertrag. Auch wenn es nach einem geregelten Austritt Großbritanniens aussieht, ist vieles nicht wirklich geregelt. Dennoch: Dieser Vertrag ist besser als keiner, sagt Michael Schmidt, Präsident der Britischen Handelskammer in Deutschland.
Herr Schmidt, Heiligabend war man sowohl in Brüssel als auch in London überglücklich, der geregelte Brexit ist da. Fehlt jetzt noch das Formulieren des Kleingedruckten?
Und das konnte man so auch nicht erwarten, dazu war ja im Schlussspurt auch die Zeit viel zu kurz. Politiker und Experten, die so einen Vertrag aushandeln, haben ja immer das Problem: Was heißt das dann für die praktischen Verfahrensregeln, was heißt das im täglichen Umgang damit? Darum wird es jetzt sowohl in Großbritannien, aber auch in den einzelnen EU-Staaten zu Verfeinerungen, zu genauen Abstimmungen des geschlossenen Vertrages kommen. In diesem Prozess wird es auf der EU-Seite, aber auch auf der Insel, Klagen geben, die von betroffenen Firmen oder Bürgern angestrengt werden. Also die eigentliche Arbeit an dem gefundenen Brexit-Deal, die fängt tatsächlich jetzt erst richtig an.
Sorgt aber nicht ein Vertrag, in dem das Kleingedruckte fehlt, nicht weiter für Unsicherheit bei den Unternehmen?
Diese Gefahr sehe ich nicht, natürlich wären Regelungen im Detail hilfreich, aber dieser Vertrag gibt einen Rahmen, nimmt jetzt erst mal die größten Unwägbarkeiten raus. Das ist aus unserer Sicht zumindest ein positives Signal. Dieser Vertrag ist besser als kein Vertrag, auch wenn er nicht perfekt ist, darüber sind sich alle Betroffenen einig. Das kann er aber auch gar nicht, normalerweise brauchen Handelsverträge von Beginn bis zur Ratifizierung fünf bis sieben Jahre. Da muss man anerkennen, dass man diesen Vertrag innerhalb weniger Monate „echter Verhandlungen" überhaupt so hinbekommen hat. Es bleiben erhebliche Unsicherheiten, aber unterm Strich sind die Firmen und Unternehmen doch froh, dass sie jetzt eine klare Richtung haben, und es wird ja auch vieles beibehalten. Wir haben weiterhin keine Zölle, wir haben keine Quoten, aber natürlich haben wir seit dem 1. Januar deutlich mehr bürokratischen Aufwand.
Das heißt zum Beispiel, die Lkw-Fahrer haben viel mehr Papierkram, mit dem sie sich jetzt rumschlagen müssen.
Na, zumindest in diesem Bereich haben wir das Papierzeitalter weitgehend hinter uns gelassen, das geschieht mittlerweile vermehrt digital. Aber natürlich ist das ein erheblicher Mehraufwand. Zwar haben wir keine Zölle, aber Grenzkontrollen, und dafür müssen sie jetzt die entsprechenden Frachtpapiere beibringen. Ebenso muss dafür die IT angepasst werden. Vieles hat man schon auf Vordermann gebracht, aber natürlich nicht alles, denn sowas kostet ja Zeit, die nicht da war.
Also trotz vorläufig geregeltem Brexit wird der Warenverkehr mit der britischen Insel in den kommenden Monaten nicht reibungslos verlaufen?
Hier und da wird es ordentlich rumpeln. Das war aber allen im Vorfeld schon klar, und darum haben die Unternehmen ja auch zusätzliche Warenlager angelegt. Darum gab es ja für die Fahrer bedauerlicherweise vor und über Weihnachten diese Staus, weil sich die britischen Firmen zum Beispiel noch mit Lebensmitteln, Bau- und Ersatzeilen eingedeckt haben. Viele haben auf diese Einigung zwischen der EU und Großbritannien zwar gehofft, aber allen war klar: Trotz Einigung wird der Warenverkehr zum Kontinent über Monate nicht ganz reibungslos verlaufen.
Eine Studie von der Britischen Handelskammer in Deutschland und der KPMG zeichnet trotz der Einigung für den Handel zwischen England und der EU ein recht pessimistisches Bild. Warum?
Da sind zwei Faktoren, die in diesem Jahr zusammenkommen werden. Wie schon erläutert, müssen viele Einzelpositionen in dem 1.200 Seiten starken Brexit-Vertrag im Detail noch geklärt oder ausgehandelt werden, das wird erneut Zeit kosten. Und dazu kommen noch die Auswirkungen von Corona, die niemand abschätzen kann. Damit hängen die Unternehmen weithin, zumindest zum Teil, sprichwörtlich in den Seilen.
Aber man hat ja zumindest jetzt einen Vertrag als Grundlage in der Hand.
Das ist richtig. Und selbst wenn in diesem Vertrag alle offenen Fragen nicht eindeutig geklärt sind: Es ist gut, dass er da ist. Doch auch der geregelte Brexit führt zu höheren Kosten. Da ist die Verwaltung, die jetzt größer wird. Dann haben Sie Finanzierung und die Logistik. Das fängt schon damit an, dass ein Containerschiff aus Asien, dass erst in England ablädt und den Rest nach Hamburg bringt, jetzt für zwei verschiedene Handelsräume die Papiere fertigmachen muss. Um das zu finanzieren, braucht man die nötigen Erträge, die aber durch die Pandemie derzeit schlicht und ergreifend nicht mehr da sind. Es fehlen die finanziellen Mittel, um diese Mehrkosten tragen zu können.
Werden denn diese Mehrkosten am Ende nicht sowieso die Konsumenten zahlen?
Das bringt eine Kostensteigerung bei Transport und Verwaltung leider immer mit sich, dass die Unternehmen dann an die Verbraucher weitergeben. Also ich befürchte mal ja. Wobei die Dimensionen nur sehr schwer abschätzbar sind. Um wie viel Prozent jetzt der Preis für britische Waren auf dem Kontinent steigen wird – und umgekehrt –, kann ich Ihnen absolut nicht sagen.
Das Königreich ist raus aus der EU. Droht jetzt jenseits des Ärmelkanals eine neue Steueroase, um Unternehmen anzulocken?
Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Steuerwettbewerb zwischen der Insel und der EU in den nächsten Monaten kommen wird, halt ich für relativ überschaubar. Das liegt daran, dass Großbritannien bereits bis zu seinem Austritt im Vergleich zu den anderen 27 EU-Staaten schon sehr niedrige Steuersätze hatte. Die britische Regierung kann jetzt eigentlich nicht mehr viel weiter runtergehen, weil sie ja schon im vergangenen Jahr massive Probleme mit der Staatsfinanzierung hatte, denn die Corona-Hilfsprogramme kosten auch auf der Insel sehr viel Geld, und das muss finanziert werden. Also den Versuch, in Teilen eine Steueroase zu installieren, will ich nicht gänzlich ausschließen, aber ich halte das nicht für sehr wahrscheinlich, und in dem Fall hätte nach dem Abkommen die EU das Recht, Gegenmaßnahmen, also zum Beispiel Zölle, zu erheben.
Nach dem geregelten Brexit: Muss ich mir um Ihren Job als Präsident Gedanken machen? Braucht es noch eine Britische Handelskammer in Deutschland?
(lacht) Nein, müssen Sie sich nicht machen, denn gerade jetzt wird unsere Organisation dringend gebraucht. Die Briten sind ja weiterhin da und werden, ja müssen, mit Kontinentaleuropa weiter eng zusammenarbeiten, nicht nur, um Handel zu treiben. Da gibt es so viele andere Überschneidungen und gemeinsame Interessen. Deswegen geht es jetzt darum, ganz schnell wieder Brücken zu bauen. Es geht um die Verteidigung, Großbritannien ist immerhin Nato-Mitglied. Es geht um die koordinierte Strafverfolgung in Europa und gerade in Corona-Zeiten ist die gemeinsame Forschung ganz wichtig, um nur einige Beispiele zu nennen. Also wir sind da schon ganz schön eng beieinander, auch wenn es jetzt schwerer wird. Aber bitte auch immer daran denken: Unternehmen passen sich neuen Rahmenbedingungen immer sehr flexibel an. Unter den beschriebenen Vorzeichen wird das vermutlich aber ein langwieriges und zähes Ringen. Dabei wollen und werden wir helfen.