Campino ist Deutschlands bekanntester Punkrocker. Unlängst ist seine Autobiografie „Hope Street" erschienen. Darin erzählt der Düsseldorfer von seiner Liebe zu England, von seiner Familie und den Toten Hosen, mit denen er den Soundtrack zum Buch aufgenommen hat. Im Interview spricht er über sein Verhältnis zu seiner Mutter, seine Zeit bei der Bundeswehr, Glücksgefühle und Niederlagen.
Campino, können Sie nachvollziehen, dass es Fans gibt, die sich jedes einzelne Konzert der Toten Hosen anschauen?
Das kann ich sehr wohl nachvollziehen, weil ich selber Bands wie den Clash, den Adicts und den Vibrators ständig hinterhergefahren bin, auch in andere Länder. Bei dieser Art von Fantum geht es gar nicht mehr nur um die Konzerte, sondern um eine Abenteuerreise mit Gleichgesinnten. Das ist eine Insider-Geschichte. So ist es auch beim Fußball. Man kann schon im Zug auf dem Weg ins Stadion großen Spaß haben. Dabei können Freundschaften entstehen, die unter Umständen jahrelang halten.
Was fasziniert Sie am FC Liverpool so sehr, dass Sie sich möglichst alle Spiele live anschauen wollen?
Man kann sich da hineinsteigern. Es ist wie bei einem Sammler. Je besser du einen Verein kennst, desto mehr zieht es dich rein, sodass du ein regelrecht schlechtes Gewissen hast, wenn du mal nicht im Stadion bist. Du redest dir ein, dass du als treuer Fan mit deiner Energie eine Rolle spielen könntest, was den Spielausgang betrifft. Du nimmst die Glücksgefühle und Niederlagen zu 100 Prozent wahr.
Hat Ihre Faszination für den FC Liverpool auch etwas damit zu tun, dass Liverpool eine ausgesprochene Musikstadt ist?
Ganz klar ja. Als Neunjähriger konnte ich nicht ahnen, was Liverpool wirklich für eine Stadt war. Ich wusste nicht, ob sie hübsch oder rau, arm oder reich war. Aber je besser ich sie und ihre Menschen kennenlernte, umso näher war mir dieser Verein. Humor spielt dort eine große Rolle. Die Tatsache, dass die Beatles aus Liverpool kamen, hat mich noch mehr begeistert. Diese vier Jungs stammen aus schlichten Verhältnissen und haben in den zehn Jahren ihrer Existenz viele zeitlose, lebenskluge Lieder herausgehauen. Ein einmaliges Zusammenkommen von Talent, Glück und positiver Lebenseinstellung.
Der Stürmer Kevin Keegan vom FC Liverpool war ein Held Ihrer Jugend. Waren Sie von ihm sehr enttäuscht, als er zur Hoch-Zeit des Punk mit Smokie die Schlager-Pop-Ballade „Head Over Heels In Love" aufnahm?
Mit seinen Locken sah er durchaus wie ein Sänger aus. Für mich war er 1971/72 ein Popstar. Als er später zum HSV wechselte und Singles rausbrachte, habe ich ihm immer noch die Daumen gedrückt. Da war es mir egal, was er sang, es war halt Kevin Keegan.
Punk war der Sound der Unzufriedenen. Womit waren Sie 1977 nicht einverstanden?
Mit überhaupt nichts. Für mich war Punk lebensbejahend mit einer total positiven Energie. Natürlich haben die Bands mit ihren Texten provoziert, von Zerstörung geredet und „No Future" zur Parole erhoben, aber es war alles andere als das. Wir hatten unheimlich viel Spaß an der Provokation und Destruktion. Wir wollten uns nicht nur von unserer Elterngeneration absetzen, sondern auch von den Hippies.
Punk entwickelte sich aber schnell in eine konstruktive Richtung. Bands wie The Clash benutzten die eigene Kraft, um Dinge zu bewegen, siehe „Rock Against Racism". Diese Ideologie gefiel mir sehr. Das Klassenbewusstsein in England war viel krasser als in der Bundesrepublik. Die Working-Class-Attitude sprach mir aus dem Herzen.
Die deutsche Nationalelf sang damals biedere Schlager wie „Fußball ist unser Leben".
In Deutschland hatte der Fußball in den 1970ern nichts mit Popmusik zu tun. Speziell in Liverpool war das anders. Dort wurde schon Anfang der 1960er-Jahre die Top Ten im Stadion gespielt, um die Leute zu unterhalten. Englische Fußballstars wurden immer schon wie Pophelden gefeiert. Ein Lied wie „Football Is Coming Home" schütteln die Engländer mal eben aus dem Ärmel. Und in den Nachrichten wird darüber gestritten, ob Oasis oder Blur die bessere Band ist.
1978, mit 16, wurden Sie Sänger der Band ZK, aus der 1982 die Toten Hosen hervorgingen. Warum wollten Sie unbedingt auf die Bühne?
Es hat mir unglaublich viel Spaß gemacht, mit ein paar anderen Pappnasen irgendwo im Keller zu stehen und einen Mordsradau zu machen. Jeder hatte eine Plastiktüte mit drei Flaschen Altbier mitgebracht. Niemand von uns trug sich mit irgendwelchen Karrieregedanken. Dass man mit Musik auch Geld verdienen konnte, entwickelte sich erst sehr spät. Wer damals nicht in einer Band spielte, schrieb für ein Fanzine oder machte Fotos.
Wir waren sehr eng mit der Düsseldorfer Kunstszene verbunden, Leute wie Immendorff und Knoebel mochten das Dadaistische am Punk. Und wir wiederum bekamen von ihnen Denkanstöße. Daraus entstanden dann Parolen wie „Wir sind die Türken von morgen" oder „Zurück zum Beton".
Ihre englische Mutter schämte sich anfangs für Ihre punkige Haltung und Ihr Aussehen, weshalb Sie jahrelang nicht mehr mit Ihnen gemeinsam frühstückte. Haben Sie versucht, ihr zu erklären, was Punk Ihnen bedeutet?
Das Problem war, dass ich das nicht groß erklären musste, weil sie die Texte ja verstand. Wenn man als 14-Jähriger „If It Ain’t Stiff, It Ain’t Worth A Fuck" auf der Jacke stehen hat, dann ist klar, dass eine Mutter dieses Kleidungsstück nicht gerne wäscht. Auch „God Save The Queen / Her Fascist Regime" war ein Angriff auf die Wertvorstellungen meiner Mutter. Sie hat den Schalk und die Ironie dahinter nicht verstanden, sondern machte sich Sorgen, dass unsere englische Familie mit mir plötzlich ein schwarzes Schaf hatte und die Nase rümpfen könnte. Ende der 1970er bekam meine Schwester von meiner Mutter sogar verboten, mein Zimmer aufzusuchen. Ich hatte ihr immer Platten vorgespielt, und sie musste raten, welche Band gerade zu hören war. Meine Mutter hat versucht zu retten, was zu retten war. Es brauchte eine gewisse Zeit, bis sie verstanden hatte, dass Punk nicht nur destruktiv ist. Nachdem es bei meinen Eltern einmal klick gemacht hatte, war es auch gut.
Sie sind anerkannter Kriegsdienstverweigerer, stellten den Antrag aber erst einen Tag nach dem Grundwehrdienst. Waren Sie in Ihrer Kompanie der Einzige, der beim Marschieren anstelle eines Gewehres einen Besen trug?
Innerhalb der Kaserne habe ich von keinem anderen Verweigerer gehört. Ich hatte verschlafen, mich rechtzeitig um meine Verweigerung zu kümmern. Breiti war Pazifist und hatte sogar die Unterstützung seiner Mutter, Andi ist nach Westberlin geflüchtet, und ich hatte Angst vor einem Gespräch mit meinem Vater.
Es ist sehr schwer, das jemandem zu erklären, der den Zweiten Weltkrieg vom ersten bis zum letzten Tag miterlebt hat. Er wollte, dass so etwas nie wieder geschieht. In seinen Augen bräuchten wir eine demokratisierte Armee, die nah am Bürgertum ist. Er war der Meinung, dass jeder seinen Teil dazu beitragen sollte. Mein älterer Bruder John war wegen seiner Rückenprobleme untauglich, darüber war mein Vater so erzürnt, dass er ihm monatelang die Gelder entzog.
Wie ging Ihr Vater damit um, dass Sie den Kriegsdienst verweigerten?
Mit seinem Lebensentwurf zu brechen, empfand mein Vater zunächst als große Enttäuschung. Verrate ich mein Leben oder das meines Vaters? Weil ich dieser harten Diskussion zu lange aus dem Weg gegangen war, bekam ich eines Tages den Einberufungsbescheid. Nach der Grundausbildung informierte ich meinen Vater per Telefon aus der Kaserne von meinen Verweigerungsplänen. Irgendwann hat er meine Entscheidung akzeptiert, aber ich durfte zu Hause keine Witze darüber machen, dass ich der Bundeswehr entkommen war.
Sie wurden wegen Ihrer Verweigerung in der Kaserne schikaniert und mussten die Toiletten putzen. Gerächt haben Sie sich auf punkige Weise, indem Sie den Offizieren in den Quark spuckten. Wie hat diese Zeit Sie geprägt?
Als ich meinen Dienst antrat, hatte ich meine Haare schwarz-rot-gold gefärbt. Der Hauptfeldwebel sagte, ich solle zum Frisör gehen und die Haare umfärben lassen. Dann würden wir beide Freunde –
andernfalls sähe ich meine Verwandten und Freunde für die nächsten anderthalb Jahre nicht mehr. Wir waren mit den Toten Hosen gerade in den Startlöchern, und ich hatte Angst, dass die Band auseinanderfallen könnte, wenn ich keine freien Wochenenden haben würde. Diese Drohung habe ich also sehr ernst genommen und daraufhin meine Haare schwarz gefärbt. Dieser Feldwebel dachte, er hätte mich resozialisiert und machte mir danach das Leben weniger schwer.
In den USA hatten Sie vor einiger Zeit ein gruseliges Erlebnis mit Waffen. Während der Dreharbeiten zu der Dokumentation „Desperado" über Wim Wenders wurde auf das Team geschossen. Was war da los?
In Texas wollten wir eine Aufnahme von der Kleinstadt Terlingua aus der Luft machen. Für die Drohne hatten wir keine Genehmigung. Sofort wurde von irgendwoher geballert – aber nicht auf die Drohne, sondern auf die Kameraleute. Wir können uns in Deutschland nicht vorstellen, dass viele Amerikaner eine Flinte neben dem Bett stehen haben. In Texas kann es gefährlich werden, in der Dunkelheit über Felder zu laufen. Wenn du privates Land betrittst und bei Aufforderung nicht sofort parierst, kann es durchaus passieren, dass du niedergeschossen wirst. In Amerika wird die Verteidigung von Leib und Seele ganz anders definiert als hier.
Warum war es Ihnen wichtig, auch die Geschichte Ihrer Eltern und Großeltern zu erzählen?
Ursprünglich wollte ich nur darüber schreiben, wie ich als Fan eine Saison lang meinen Verein begleite und was drumherum geschieht. Dann wurde mir klar, dass ich die deutsche Seite daneben stellen wollte. Ich habe mich tief in unsere Familiengeschichte hineingegraben. Mein Vater und mein Großvater haben die Briefe, die sie sich gegenseitig schickten, alle aufgehoben. Ich habe über diesen Briefwechsel viel über meine englischen und deutschen Großeltern erfahren. Auf diese Weise bin ich mir meiner Wurzeln mehr bewusst geworden.
Das Hörbuch „Hope Street" beinhaltet auch sechs Lieder aus oder über Liverpool, gesungen und gespielt von Ihnen und Tote-Hosen-Gitarrist Kuddel.
Ich fand den Gedanken sympathisch, mit dem Buch auf Lesereise zu gehen und dabei akustische Lieder zu spielen, die mit Liverpool zu tun haben. „Penny Lane" von den Beatles zum Beispiel ist die Beschreibung einer Location in Liverpool. „Ferry Cross The Mersey" ist eine Liebeserklärung an die Stadt von Gerry & The Pacemakers – neben unserem selbstgeschrieben Lied „Long Way To Liverpool" von 1994. Im Proberaum merkten wir, dass die eine oder andere Nummer auch für die ganze Band funktionieren könnte. Die anderen waren dann sehr schnell entflammt. Ein schönes Zeichen, dass die Band gerne mit mir teilt, was ich gerade mache. Das Buch ist dadurch kein Soloausflug mehr.
Den Soundtrack zu „Hope Street" bildet das Tote-Hosen-Album „Learning English Lesson 3: Mersey Beat! The Sound of Liverpool". Es enthält Songs von etlichen Beatles-Zeitgenossen. Waren das die Vorläufer des Punk?
Für mich absolut. Der Rock’n’Roll und die Beat-Musik Anfang der 1960er-Jahre klangen revolutionär. Auf Fotos von damals sieht man für heutige Verhältnisse ganz ordentliche Frisuren. Aber alleine schon Haare über den Ohren zu haben, war zu dieser Zeit ein Skandal. Weil Bands wie The Searchers, Gerry & The Pacemakers, Rory Storm and the Hurricanes und The Swinging Blue Jeans über nichts anderes als Lust und Liebe sangen, machten die Eltern sich Sorgen, dass die Jugend ihre Ausbildung und ihr Leben nicht mehr ernst nimmt. Um 1960 gab es weit über 300 Bands in Liverpool. Die Hafenstädte Liverpool und Hamburg sind seelenverwandt. Es gab einen großen Austausch.