Corona hat unsere Arbeitswelt innerhalb eines Jahres verändert. Vieles wird nach dem Lockdown wieder in alte Bahnen zurückkehren, aber einiges wird sich für immer wandeln. Für die Arbeitnehmervertreter eine Herausforderung, betont Reiner Hoffmann, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB.
Herr Hoffmann, alle sprechen vom Homeoffice, doch Sie sprechen da immer lieber vom „mobilen Arbeiten". Warum?
Das hängt vermutlich auch ein bisschen mit meiner eigenen Geschichte zusammen. Ich bin Sohn eines Bauarbeiters, der ständig wechselnde Baustellen hatte, und das ist ein Beispiel für mobiles Arbeiten. Davon betroffen sind zum Beispiel auch die Pflegekräfte, die jeden Tag mehrere Stellen anfahren müssen. Darum ist das Phänomen, keinen festen, sondern wechselnde Arbeitsplätze zu haben, für mich und uns als Gewerkschaften nichts Neues. Dass nun die Pandemie viele Leute, vor allem wegen des Gesundheitsschutzes, an den Schreibtisch in den eigenen vier Wänden verbannt hat, ist eine neue Entwicklung im Bereich der Büro-Tätigkeiten, aber eben auch mobiles Arbeiten.
Das heißt, Homeoffice klingt ziemlich hip, ist aber ein alter Hut?
Ja. Aus dem einfachen Grund: Auch die Installateure müssen ja ihre Termine bei ihren Kunden selbstständig von zu Hause aus planen. Das gilt selbstverständlich auch für viele Arbeitsnehmer in den Pflegeberufen, die sich ihre Routen meist von zu Hause aus selbst zusammenstellen und das auch entsprechend von ihrem Schreibtisch koordinieren müssen. Heimarbeit ist wirklich keine so große Seltenheit. Wenn Sie in die Anfänge der Industrialisierung schauen, also um 1850, da standen die Webstühle bei den Leuten im Zimmer, und erst mit der Elektrifizierung entstanden dann die großen Manufakturen mit den mechanischen Webstühlen. Aber auch in der Nachkriegszeit, also in den 50er-Jahren, gab es sehr viel Heimarbeit vor allem für Kriegsversehrte. Nun sind wir im Jahr 2021 und durch die Digitalisierung, sind auch wieder viele Tätigkeiten von zu Hause aus möglich. Das hat jetzt durch die Pandemie einen völlig neuen Drive bekommen, für die Arbeitnehmer kann das viele Chancen eröffnen, birgt aber auch Gefahren in sich.
Die Chance ist klar: näher dran sein an der Familie. Welche Gefahren sehen Sie?
Das fängt ja schon damit an, dass es nicht wenige gab, die im letzten Frühjahr nicht ins Homeoffice wollten, doch vom Arbeitgeber angewiesen wurden. Da mussten dann Arbeitnehmer mit ihrem Laptop in der Küche ihre Arbeit verrichten, weil sie einfach vom Platz her gar nicht darauf vorbereitet waren, jetzt von zu Hause zu arbeiten. Da kommt es dann zu Entgrenzungen, Privates und Arbeit verschmelzen plötzlich. Obendrein haben wir eine Arbeitsintensivierung beobachtet. Das heißt, plötzlich wird mehr Leistung verlangt, schließlich hat man ja nicht mehr die Stunde Anfahrt. Daraus resultiert, dass Arbeitszeiten nicht mehr bezahlt werden, und das geht natürlich auf Kosten der Arbeitnehmer. Das ist dann genau das Gegenteil von dem, was sich Menschen ursprünglich vom Homeoffice wünschen: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Ein äußerst schwieriges Thema haben Sie gerade schon genannt, die Arbeitszeiterfassung. Da liegen die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern reichlich über Kreuz?
Ich verstehe die Position der Arbeitsgeber da überhaupt nicht, warum die so mauern. In meiner Ausbildung, und die liegt nun auch schon fast vier Jahrzehnte zurück, habe ich meine Stunden aufgeschrieben, und die wurden dann am Ende der Woche abgerechnet. Das habe ich noch mit Kugelschreiber und Papier hinbekommen. Wir sind jetzt im Jahr 2021, beinahe jeder Berufstätige, vor allem in der mobilen Arbeit, hat ein Smartphone. Da kommt eine App drauf, die erfasst die Arbeitszeiten, und das wird dann beinahe auf die Sekunde an den Arbeitgeber gemeldet. Also konkrete Arbeitszeiterfassung ist heutzutage wirklich kein Problem mehr.
Warum tun sich die Arbeitgeber sich dann so schwer damit?
Das ist ganz einfach: Werden die Arbeitszeiten nicht wirklich richtig erfasst, kann auch keiner mehr abrechnen, wie viel Stunden da wirklich gearbeitet wurden. Sie dürfen nicht vergessen: Wir haben jedes Jahr über eine Milliarde unbezahlter Überstunden in Deutschland. Über eine Milliarde – und das betrifft eben vor allem das mobile Arbeiten. Das ist nichts anderes als Lohndiebstahl, und den wollen wir stoppen. Ich befürchte, durch das vermehrte Homeoffice in 2020 wird die Zahl der unbezahlten Überstunden im letzten Jahr noch erheblich höher liegen als in den Vorjahren.
Aber das heißt ja, solange es keine vernünftige Arbeitszeiterfassung beim mobilen Arbeiten nach den Vorstellungen des DGB gibt, dass die SPD-Forderung nach einem Recht auf Homeoffice im Widerspruch zu Ihnen steht?
Nein, das muss kein Widerspruch sein, denn wir erleben doch durchaus, dass Menschen gern von zu Hause aus arbeiten wollen. Nun, nicht fünf, aber zumindest ein oder zwei Tage die Woche. Auf der anderen Seite stehen dann die Arbeitgeber und befürchten einen kompletten Kontrollverlust über ihre Beschäftigten, was ja nicht stimmt, denn die Arbeitsleistung muss ja auch von zu Hause aus erbracht werden. Diese Einseitigkeit muss aufgebrochen werden. Da, wo es geht, sollte man die Möglichkeit einer Homeoffice-Regelung zulassen. Außerdem ist ein Recht auf mobiles Arbeiten ja nicht nur eine Entscheidung des Arbeitnehmers, sondern da gibt es ja auch noch Betriebs- und Personalräte, die das dann schlussendlich mitentscheiden müssen.
Wie weit würde ein Recht auf Homeoffice den Einfluss der Gewerkschaften schwächen. Wenn sie die Arbeitnehmer nicht mehr direkt im Betrieb erreichen, kann man sie auch nicht persönlich ansprechen?
Das nehmen wir sehr ernst und darum fordern wir ja auch einen digitalen Zugang in den Unternehmen, wo wir als Interessenvertreter sind. Das heißt, wenn wir den Weg zur vermehrten digitalen Arbeit weitergehen, da müssen auch die Mitbestimmungsrechte der Personal- und Betriebsräte erweitert werden. Ganz konkret: Im Betriebsverfassungsgesetz ist geregelt, dass Gewerkschaften einen Zutritt zum Betrieb haben, rein physisch. Wenn ich das weiterdenke, muss es diesen Zutritt schnellstmöglich auch digital geben, damit wir alle Mitarbeiter erreichen können. Damit wir informieren können, und damit die Mitarbeiter wissen: Wenn es Probleme am Arbeitsplatz gibt, könnt ihr euch an uns wenden. Denn nur so können wir in der zukünftigen digitalen Arbeitswelt soziale Verwerfungen vermeiden, die wir alle nicht wollen.
Weiteres wichtiges Thema im neuen Jahr: Ausbildungsplätze 2021. Durch den Lockdown werden viele Jugendliche möglicherweise keinen Ausbildungsplatz finden, weil diese gestrichen wurden. Was tun?
Sie haben recht, das Ausbildungsangebot ist leicht runtergegangen, darum appellieren wir als Gewerkschaften an die Arbeitgeber: Schafft Ausbildungsplätze, stellt diese bereit. Der Fachkräftemangel wird ja jetzt schon immer deutlicher spürbar. Wir ermuntern aber auch umgekehrt immer wieder junge Menschen, sich einfach zu bewerben, selbst initiativ zu werden und in den Betrieben nachzufragen, ob nicht doch eine Möglichkeit besteht, eine Ausbildung zu beginnen. Also mit der klassischen Blindbewerbung vielleicht doch den richtigen Ausbildungsplatz zu finden.