Von wegen Schulautor. Friedrich Dürrenmatts Stücke sind Klassiker, sie enthalten so viel Aktualität, dass sie noch heute effektvoll gespielt werden können. Der Autor wäre am 5. Januar 100 Jahre alt geworden.
Drei Physiker, die aus Angst vor ihren eigenen Erfindungen in eine Irrenanstalt fliehen. Eine Milliardärin, die eiskalt ihre Rache an einem ganzen Dorf auskostet. Kriminalromane, in denen ein Kommissar wie ein Besessener sein Leben lang einen Kindermörder aufzuspüren versucht (verfilmt als „Es geschah am helllichten Tag").
Das ist es schon, was als Schulstoff vielen Heranwachsenden begegnet ist. Dürrenmatt selbst – und das mag Schulversager und -abbrecher trösten – war kein guter Schüler. Die Schulzeit war für ihn die „übelste Zeit" seines Lebens. Bei den Lehrern eckte er mit seinem Verhalten an, er galt als Querulant und Träumer. Im Schweizer Emmental zur Welt gekommen, begann er schon während seiner frühesten Kindheit zu malen und zu zeichnen. Sein ureigenster Wunsch war eine Ausbildung zum Kunstmaler. Er musste dann aber, als er die Matura in Bern an einem strengen Gymnasium gerade so mit „ausreichend" geschafft hatte, Philosophie, Germanistik und Naturwissenschaften an der Universität Bern studieren. Sein Vater war protestantischer Pfarrer, für ihn war selbstverständlich, dass der junge Friedrich eine theologische Laufbahn einschlägt. Dagegen wehrte sich der Sohn entschieden. An der Uni hielt es ihn auch nicht, eine geplante Dissertation ging er gar nicht erst an. Er wollte Schriftsteller werden.
Die ersten Stücke, die er schrieb, fielen glatt durch. Sein erster Krimi „Der Richter und sein Henker" erschien als Fortsetzungsgeschichte im „Schweizerischen Beobachter": Kommissar Bärlach richtet seinen Feind Gastmann, der sich nie etwas nachweisen ließ. Und Tschanz, Bärlachs Assistent, erschießt ihn. 1953 folgte gegen 2.000 Franken Vorschuss „Der Verdacht": Diesmal kommt Bärlach einem deutschen KZ-Arzt auf die Spur, der Operationen ohne Narkose an Häftlingen vornahm. Beide Krimis wurden insgesamt über 30 Millionen Mal gedruckt. Dürrenmatt schrieb Hörspiele für deutsche Sender und arbeitete an weiteren Stücken, die an den Schweizer Bühnen nur wenig Erfolg hatten. Erst „Der Besuch der alten Dame" (1956), „Die Physiker" (1962) und „Der Meteor" (1966) verhalfen ihm zu Weltruhm und machten ihn zum Millionär.
Über 30 Millionen Mal gedruckt
Auch „Der Besuch der alten Dame" ist im Kern eine Kriminalgeschichte. Claire Zachanassian ist Opfer, Richterin und Henkerin zugleich. Sie verlangt, dass das Dorf Güllen gegen eine erhebliche Geldsumme Alfred Ill ausliefert, den Mann, der sie vor Jahren vergewaltigt hat. Entsetzt lehnt der Bürgermeister ab. Doch das Dorf ist in einer desolaten Situation, die Bürger sind verarmt, die Wirtschaftskrise trifft die Gemeinde hart. Alfred fühlt sich sicher, doch mit der Zeit bemerkt er, dass seine Nachbarn immer mehr Geld für neue Schuhe und Kleidung ausgeben. Er bekommt es mit der Angst zu tun und geht zur Polizei. Auch der Polizist trägt neue Schuhe. Doch er versichert, man lebe in einem Rechtsstaat, und Alfred habe nichts zu befürchten. Die Schlinge zieht sich zu. Das Angebot des Bürgermeisters, sich selbst umzubringen, lehnt er ab. Auf einer Stadtversammlung beschließen die Bürger einstimmig, Alfred Ill für seine Tat zu bestrafen. Das Licht geht aus. Als es wieder hell wird, liegt Alfred tot am Boden. Der Stadtarzt gibt als offizielle Todesursache einen Herzinfarkt an.
Die Moral von der Geschicht‘: Der Mensch ist korrumpierbar, bietet man ihm nur genug Geld, ist er zu allem bereit. Doch ist das so einfach? Immerhin steht hier das Gemeinwohl (die Krisensituation) gegen Moral. Und Moral – so Brecht – muss man sich erst mal leisten können. Wie ist das, wenn ein multinationaler Konzern kommt und einer Gemeinde anbietet, ein Werk mit 1.000 Arbeitsplätzen zu errichten, wenn sie ihr Naturschutzgebiet opfert? Kann der Turbokapitalismus nicht mit seinem finanziellen Gewicht sämtliche Verordnungen und Beschränkungen außer Kraft setzen?
Dürrenmatt hat einen Klassiker geschrieben. Er ist als Groteske angelegt, keine zarten Andeutungen, sondern knallige Effekte, eine Komödie, die jedoch mit dem, was das Publikum heute gemeinhin unter einer „Komödie" versteht, nichts zu tun hat. „Uns kommt nur noch die Komödie bei", sagte der Autor. Als Tragikomödie.
Besonders beliebt für Schulaufführungen: „Die Physiker". Das Stück spielt in einem Irrenhaus. Drei Pflegerinnen werden umgebracht. Als Täter kommen nur „Einstein", „Newton" und „Möbius" infrage. Doch die Ärztin beruhigt Kommissar Voß und verweist darauf, dass eben die drei irre sind. Möbius, der einzige echte Wissenschaftler, allerdings hat eine Art Weltformel entdeckt, die jedem Menschen die Macht in die Hand gibt, die Rätsel der Natur zu verstehen und die Welt zu beherrschen. Er ist freiwillig ins Irrenhaus geflüchtet, weil er sich dort sicher fühlt. Newton und Einstein sind in Wirklichkeit Geheimagenten, die es auf die Formel abgesehen haben. Doch Möbius hat alle Unterlagen vernichtet. Die Ärztin aber hat sich heimlich eine Kopie des Papiers gemacht. Sie entpuppt sich als die einzig wahre Irre und will die Herrschaft über die ganze Welt an sich reißen.
Während des Kalten Kriegs geschrieben
Das Stück entstand in der Zeit des Kalten Kriegs zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Bereits im Jahr 1957 hatten sich 18 Atomforscher der Bundesrepublik mit der Erklärung der Göttinger Achtzehn gegen die militärische Nutzung der Atomkraft und eine Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen gewandt. 1956 erschien Robert Jungks Buch „Heller als tausend Sonnen" über die Entwicklung der Atombombe, das sogenannte Manhattan-Projekt. Jungk argumentierte, es gebe keine Möglichkeit, „Denkbares geheim zu behalten. Jeder Denkprozess ist wiederholbar." In Dürrenmatts Worten: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgeholt werden." In seinen 21 Punkten zu den „Physikern" schreibt er: „Der Inhalt der Physik geht nur die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen. Was alle angeht, können nur alle lösen." Man braucht nur den Begriff Physik durch Gentechnik oder Biowissenschaften zu ersetzen, um zu sehen, wie viel Aktualität in dem Stück steckt.
Dürrenmatt selbst sagte gegen Ende seines Lebens, er spiele im Theater keine Rolle mehr. Er fände nur Regisseure, die nicht das Stück spielten, sondern „sie inszenieren ihre Idee zum Stück". Trotzdem finden sich seine Stücke immer wieder auf deutschsprachigen Spielplänen. Im Diogenes-Verlag liegen 50 Bände als Taschenbuch vor, dazu das gesammelte Prosawerk in 19 und das Spätwerk „Stoffe" in noch einmal fünf Bänden. Es gäbe neben der Schullektüre also noch viel zu entdecken. Wer kennt schon „Die Panne", Dürrenmatts Lieblingsstück „Ein Engel kommt nach Babylon" oder „Der Meteor", die Abrechnung mit seinen Kritikern? 1990 starb der Schweizer Autor mit 69 Jahren an einem Herzinfarkt. Er hatte, obwohl zuckerkrank, immer aus dem Vollen gelebt.