Oder: Das Wiedereinkehren in die selbst verschuldete Unmündigkeit
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit", so Immanuel Kant. Alter Hut, ich weiß. 1784 schrieb er dieses Bonmot nieder. Ein knappes Vierteljahrtausend später drängt sich einem die Frage auf, wie Kant die heutige Entwicklung des, na ja, „Wiedereinkehrens in die selbst verschuldete Unmündigkeit" nennen würde.
Kommt es auch Ihnen so vor, dass Mündigkeit insbesondere in den letzten fünf bis zehn Jahren immens an Coolness eingebüßt hat? Gut, es gibt noch mehr Dinge, die, sobald Sie 236 Jahre auf dem Buckel haben, antiquiert wirken. Aber Aufklärung? Ich bitte Sie!
Ich ging zur Schule in dem Glauben, das Ziel von Bildung sei, aus uns mündige Menschen zu machen. Menschen, die in der Lage sind, eigenmächtig Entscheidungen zu treffen. Und ich bin heute mehr als froh, dass Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu meinem „Werkzeugkasten" gehören. Denn ganz unabhängig davon, ob ich Schreiner, Lehrer, Burgerbrater oder unzertifizierter Klangschalen-Entspannungscoach auf Arbeitssuche bin: Ich weiß, ich habe mein Schicksal in der Hand.
Natürlich kann ich nicht beeinflussen, was das Leben mir bringt. Meine Reaktion darauf aber, die habe ich in der Hand. Ich habe sogar in der Hand, ob ich überhaupt reagiere. Denn auch das ist eine legitime Handlungsweise. Vor allem so lange ich sie begründen kann. Mit der Dings, hier … der Ratio. Mit dem Köpfchen, Sie verstehen …
Ähnlich verhält es sich mit der Meinungsfreiheit. Ich kann mir eine Meinung bilden. Muss es aber nicht. Ich kann sogar eine Meinung haben, sie aber für mich behalten. So frei sind wir! Verrückt.
Bevor man mir jetzt vorwirft, ich wäre einer dieser „Früher-war-alles-besser-Typen", gebe ich Entwarnung. Es war schon immer so schlimm. Da mache ich mir gar keine Illusionen. Nur gab es früher keine Social Media. Dank derer kann heute jeder zornige Mittvierziger frustriert in seinem Kämmerlein sitzen und „die da oben", die Illuminaten, die Freimaurer oder den Mann, der mit Comic Sans bereits genug Übel auf die Welt gebracht hat, für sein jämmerliches Dasein, seinen kreisrunden Haarausfall, eine Pandemie oder seinen ungesunden Teint verantwortlich machen.
Verstehe ich etwas nicht, muss es sich um eine Verschwörung handeln. Geht es mir schlecht, suche ich einen Schuldigen. Klar, ansonsten müsste man nach innen schauen. In die Leere. Die Dunkelheit. Sich seinen Dämonen stellen. Zugeben, dass man Angst hat. Verletzlich ist. Dass man sich nach Nähe, Geborgenheit, Liebe sehnt. Ist aber ein wenig … na, Sie wissen schon … unangenehm. Daher suchen wir lieber im Außen nach einem Feindbild. Am besten Menschen, die Dinge erreicht haben, die wir nie erreichen werden. Entweder weil uns die Chancen, das Geld, die kognitiven Fähigkeiten oder das Glück fehlen. Und dann hauen wir drauf. Ist nämlich … na, Sie wissen schon … einfacher.
Wir entmündigen uns selbst und schieben anderen die Schuld in die Schuhe. Was sind wir doch für Einfaltspinsel (m/w/d)! Meine große Erkenntnis in diesem Jahr: Die Menschheit ist geteilter denn je. Das war auch davor nicht anders. Nur konnte damals jeder noch seinen „Lifestyle" zelebrieren, sich frei betäuben und es sich „gut gehen lassen". Urlaub, Wochenende, Party. Wofür man halt so lebt. Seltsam, dabei haben wir in diesem Jahr doch mehr Zeit denn je, um uns wirklich um uns zu kümmern.
Doch wer auf sich zurückgeworfen ist und kein Fundament vorfindet, fällt tief. Daher sind vermutlich auch der Aufschrei und der Wunsch nach Normalität so groß. Sie ist die Droge, und wir sind auf kaltem Entzug. Und weil wir uns nach Normalität sehnen, verfallen wir Verschwörungsmythen, weil die so schön, äh, unnormal sind und … wie? Das ergibt keinen Sinn? Nun, noch ein paar Monate mehr in Richtung selbst verschuldeter Unmündigkeit, und es spielt gar keine Rolle mehr, wer wie was sagt und meint, sondern nur noch, wer am lautesten schreit.