Ina Müllers rauchig-soulige Stimme wärmt wie eine Kuscheldecke. Ihr Album „55" mutet an wie eine augenzwinkernde Bestandsaufnahme verpasster Chancen und Träume. Für 2022 plant sie exakt 55 Shows.
Unser Autor Olaf Neumann traf in Hamburg auf eine quirlige, leicht überdrehte, breit grinsende Künstlerin und wollte von ihr wissen, wie viel Dichtung und Wahrheit in ihren Songs enthalten sind. Selbstredend, dass die gelernte Apothekerin kein Blatt vor den Mund nahm:
Ina Müller, Ihr neuntes Soloalbum „55" entstand in Zusammenarbeit mit Ihrem Lebensgefährten Johannes Oerding und dem Texter Frank Ramond. Setzen Sie gern auf Bewährtes?
Zum Texten bin ich mit Frank Ramond für ein paar Wochen nach Spanien gefahren, um überhaupt neue Ideen für Lieder zu sammeln, und mit Johannes hab ich dann in der Küche die Musik geschrieben. Never change a winning Team! Und never change a winning Küche!
Ist Ihnen die Corona-Krise in die Quere gekommen?
Im Studio durfte immer nur ein Musiker sein und trommeln, beziehungsweise Gitarre spielen. Dank Corona hatte ich noch nie so viel Zeit für ein Album. Sonst habe ich immer viel auf den letzten Drücker erledigt und manche Dinge nicht richtig gut zu Ende gebracht. Diesmal kann ich aber sagen: „So, besser geht’s nicht!"
Viele der Lieder sind melancholisch. Sie drehen sich um Ex-Partner, das erste halbe Mal, die Zeit, die davonfliegt und früher, als alles leichter war. Neigen Sie dazu, die Vergangenheit zu verklären?
Ich habe 55 glückliche Jahre auf dieser Welt verbracht. Zum ersten Mal fühle ich das nicht mehr so, seit es Corona gibt und sehr viele große und wichtige Länder auf der Welt von Despoten regiert werden. Früher dachten wir, es würde nie wieder Krieg geben, weil wir viel zu aufgeklärt sind. Da bin ich mir heute überhaupt nicht mehr sicher. Dieses Thema ist dann auch in das eine oder andere Lied hineingeflossen. Die Unsicherheit und die Angst. Und die Sehnsucht nach der Unbeschwertheit. Die vergangenen 50 Jahre waren doch die fettesten. Es gab alles, was wir brauchten und wenig, was wir richtig beschissen fanden. Es gab die Emanzipation, die Pille, Antibiotika, Impfstoffe. Heute kennen wir natürlich die Nachteile für die nächsten Generationen, die wir verursacht haben.
Politische Auseinandersetzungen werden heute sehr aggressiv geführt. Sorgt das bei Ihnen für Politiklust oder -frust?
Ich bin ganz froh, dass wir eine besonnene Angela Merkel als Kanzlerin haben. Ich bin zwar vom Virus, aber eigentlich nicht von der politischen Situation in Deutschland gefrustet. Die Regierung versucht, ihre Bevölkerung zu schützen, indem sie sagt: „Bitte wascht euch die Hände, tragt Masken und hört auf zu feiern!" Es geht hier um einen Virus, das wir nicht kennen. Und wer sollte da auch die Verantwortung übernehmen, und sagen: „Okay, nehmt die Masken ab, lass‘ laufen, mal gucken, was passiert". Die Politik? Drosten? Der Papst?
„Ich halt die Luft an" ist ein nachdenklicher Song über die Auswirkungen der Globalisierung auf unser Leben.
Genau, es geht um den Schmetterlingseffekt, und damit – also in übertragenem Sinn – um die Reichweite, die ein einziger Post heute weltweit haben kann, und was dann daraus resultiert.
Haben alle Ihre Lieder autobiografische Bezüge oder schnappen Sie das Futter für Ihre Geschichten im Alltag oder Nachtleben auf?
Ich hatte jetzt vier Jahre Zeit, Ideen zu sammeln. Ich glaube nicht, dass ich jedes Jahr ein richtig gutes Album machen könnte. Ich habe schon über so viele Themen gesungen, da dauert es einfach länger, bis mich mal wieder etwas anspringt. Wenn dann eine gute Idee da ist, dann ist es jedes Mal wie ein Fest. Wie zum Beispiel beim Eichhörnchensong. Eichhörnchen haben ja kein Navi und vergessen direkt, wo sie die Nüsse verbuddelt haben. Und so steh ich auch manchmal in der Küche, und denke: „Öööhhh …!"
Sind Sie Ihrer Vergesslichkeit mal auf den Grund gegangen?
Ich habe einen Test im Netz gemacht, und der sagt, ich bin im Kopf genauso fit wie Donald Trump, der den auch gemacht hat! Aber im Ernst: Ich habe echt Angst davor, im Alter tüdelig zu werden. Dass der Körper älter wird, das akzeptiere ich ja schon länger. Aber ich möchte, dass mein Kopf fit bleibt.
Was machen Sie, wenn Sie in der Stadt zufällig einen Bekannten treffen, dessen Namen Ihnen partout nicht einfallen will?
Ja, dann sage ich: „Hey du! Na?" Namen merken fand ich aber immer schon schwer. Auf der Bühne funktioniert das noch dank meines guten Kurzzeitgedächtnisses sehr gut. Aber wenn ich auf der Straße jemanden treffe, der nicht gerade in meinem Vorderlappen hängt, ist es manchmal schwierig. Darf ich Ihnen erzählen, warum das mit den Namen so schwierig ist?
Ich bitte darum!
In unseren Gehirnregionen gibt es keinen Platz für Namen, weil wir dieses Wissen in der Steinzeit nicht gebraucht haben. Damals hieß noch niemand Uwe. Wir mussten uns aber Gesichter merken. In unserer Evolution ist ein Gesichtsausdruck wichtig, um zum Beispiel auf einen Menschen zulaufen oder von ihm weglaufen zu können. Gefahr oder Liebe. Das war damals lebensrettend. Es hat mich sehr beruhigt, als ich das gelesen habe.
Ihre Lieder drehen sich nicht nur um den geistigen, sondern auch den körperlichen Verschleiß. Auch eigene Erfahrungen?
Natürlich! Ich kann doch nur über das singen, was mir oder mit mir passiert. Und über mein gespaltenes Verhältnis zum Sport konnte ich immer schon lachen und viel erzählen oder singen. Ich bin ja für jede Sportart, für die ich mich entschieden habe, auch sofort top ausgestattet. Schuhe, Stöcke, alles da. Dann gehe ich einmal hin, und dann war’s das. Und wenn ich mal 30 Minuten gelaufen bin, fühle ich einen Stolz, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mir. Ich merke aber, dass es wichtig ist, sich mit Mitte 50 irgendwie zu bewegen. Ich träume immer von diesem Bild, so als Pärchen locker nebeneinander zu laufen, sich ohne zu schnaufen zu unterhalten, lachen. Aber bei uns gäbe es sofort Streit.
Worüber können Sie herzlich miteinander streiten?
Na, genau darüber. Wie schnell soll man laufen? Wie die Arme richtig bewegen? Und wenn wir in der Küche sitzen und neue Lieder schreiben, dann wird auch diskutiert und gestritten. Die Songs entstehen immer mit viel Blut, Schweiß und Tränen. Andererseits ist das Ergebnis dann auch richtig gut. Da wir uns jetzt aber schon so lange kennen, wird nicht mehr jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Wir wissen mittlerweile, wie man effektiv streitet.
Wann hat Ihr Stoffwechsel zuletzt rotgesehen – wie in Ihrem Lied – und haben Sie ihren Laptop aus dem Fenster geworfen?
Zum Glück noch nie, aber wenn ich unterzuckert bin, lege ich gerne den Finger in die Wunde. Das kann ich leider ganz gut. Und was generell Zucker angeht, da neige ich echt zur Abhängigkeit. Ich esse Schokolade und Kekse und habe direkt Linderung. Deshalb gibt es ja oft auch diesen Vergleich zwischen Zucker und Koks.
Aber Koks war so schlecht singbar, deshalb singe ich: „Wie Heroin stillt der Zucker meine Nerven". Ich habe aber zum Glück weder Koks noch Heroin je in meinem Leben ausprobiert. Bei mir sind es Zucker, Alkohol und Nikotin, und das reicht ja auch.
„Viele Feuer sind erloschen, nur eines glüht konstant – die Kippe in der Hand". Was bewirkt Nikotin bei Ihnen?
Auf jeden Fall keine klassische, körperliche Abhängigkeit. Immer wenn ich wieder angefangen habe zu rauchen, war es eine „Jetzt würde ich gerne eine rauchen"-Situation. Eine Zigarette in diesem Moment, und zu diesem Getränk. Mein Lied „Rauchen" ist aber keine Hommage an die Zigarette oder an das Rauchen an sich. Ich hab nur irgendwann festgestellt, dass ich immer mit den Rauchern abhing. In der Schule, an der Bushaltestelle, im Zug, auf Partys. Und deshalb weiß ich, dass ich auf jeden Fall heute andere Freunde und auch andere Geschichten zu erzählen hätte, hätte ich nie angefangen zu rauchen.
In Kindheit und Jugend fangen selten die Braven mit dem Rauchen an, sondern eher die Ausgeflippten.
Na ja, ich wollte halt cool sein. Damals haben die Coolen geraucht. Heute ist das Rauchen ja zum Glück unmodern geworden. Als ich Kind war, wurden wir ja wirklich überall zugequalmt. Zu Hause, im Auto. Und Opa dann noch mit seinen Zigarren. Das Wort „Raucherbein" war dann immer irgendwie Thema, aber eine Aufklärung über die wirklichen Folgen des Rauchens gab es damals noch nicht. Jedenfalls nicht bei uns.
Wie waren Sie in Ihrer Sturm- und Drang-Zeit?
Meine Mutter nannte mich immer „Sonderling". Ich weiß aber gar nicht genau, warum. Vielleicht, weil ich ein bisschen anders angezogen war als die anderen. Und auch immer ein bisschen anstrengender war als die anderen. Irgendwann wollte ich cool sein und rauchte eine mit. Die erste Zigarette war fürchterlich, aber das habe ich beim „ersten halben Mal" auch gedacht. Wenn es das ist, worüber hier seit Hunderten von Jahren in den Liebesliedern gesungen wird, dann aber schönen Dank, Marie!
Wie alt waren Sie beim „ersten halben Mal"?
Ich war 17. Ein verklemmter Spätzünder, aber für mich genau richtig. Ich hätte nicht mit 14 Sex haben können. Das hätte mich fürs Leben verstört.
Wer hat Sie aufgeklärt?
Wir hatten in der Schule ganz klassischen Sexualkundeunterricht. Da waren ein nackter Mann und eine nackte Frau mit Kreide an die Tafel gemalt –
mit den primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen. Uns wurde der Sex erklärt und wie die Kinder gemacht werden und wie sie auf die Welt kommen. Ich erinnere mich noch, wie mich wochenlang die Frage gequält hat, was wohl passiert, wenn man beim Sex machen pinkeln muss. Dass war für mich eine schlimme Vorstellung. Irgendwann habe ich mich getraut, sie zu stellen.
Welche Antwort bekamen Sie?
Meine Lehrerin sagte: „Man muss nicht pinkeln, wenn man Sex hat!" Zack, war das Thema auch geklärt.
„Ich bin nicht mehr hier für Preise – Ich kämpf nur noch gegen den Verschleiß", singen Sie auf Ihrer Platte. Hand aufs Herz: Nimmt das Verlangen nach Ruhm und Eitelkeit mit den Jahren wirklich ab?
Ja. Obwohl ich sagen muss, dass ich jeden einzelnen Preis, den ich bekommen habe, als große Bauchpinselung und große Freude empfunden habe. Ich mochte ja auch diese ganzen Veranstaltungen und das ganze Bohei drumherum. Ich mochte sogar den Echo. Das arme Ding, dieses Schicksal hat er nicht verdient! Die Organisatoren hatten ja nie etwas anderes behauptet, als eine Leistungs- und Verkaufsschau zu sein. Zu dem Zeitpunkt, als meine Sendung „Inas Nacht" etwa zwei Jahre alt war, bekam ich den Grimme-Preis, den Comedypreis, den Fernsehpreis, die Goldene Henne. Mir war richtig schwindelig vor Preisen. Ein bisschen schade, dass sich sowas nicht über die Jahre verteilt.
Wo lagern Sie all diese Schätze?
Sie befinden sich sicher und in feinstem Pergamentpapier eingewickelt auf meinem Schrank. Die massiven und formschönen Preise – wie die Henne und den Comedypreis – nutze ich als Türstopper. Aber wie gesagt, ich bin jetzt nicht mehr hier für Preise, ich kämpfe jetzt nur noch gegen den Verschleiß – und zwar bis an mein Lebensende. Ich turne bis zur Urne.