Kirche und Homosexualität? Passt zusammen, finden die evangelischen Pastorinnen Stefanie und Ellen Radtke. Auf Youtube berichtet das Paar regelmäßig aus seinem Alltag. Mit Erfolg.
Es ist diese Kirchturm-Szene, die Stefanie und Ellen Radtke bekannt gemacht hat. Die Fensterläden gehen auf, zwei Pastorinnen schauen hinaus und geben sich einen schmatzenden Kuss. So beginnt der Trailer von „Anders Amen", einem Youtube-Kanal, in dem die beiden Frauen im Mittelpunkt stehen. Kirche, queer und lesbisch? Das muss kein Widerspruch sein, findet das Paar, das bei der evangelischen Landeskirche in Niedersachsen arbeitet.
In ihren Videos plaudern die Pastorinnen offenherzig über ihr Leben. Mal geht es ums Theologie-Studium, mal ums Coming-out oder die Etikette in der „Gay-Sauna". Peinliche Gottesdienst-Momente kommen ebenso zur Sprache wie eine Anleitung zum Bierbrauen oder ein Friedhofsbesuch („Highway to Hell"). Kirche muss nicht trist und spießig sein, lautet die Botschaft. Und schon gar nicht homophob. Obwohl das Projekt erst seit Anfang 2020 läuft, saßen die Radtkes schon bei „Stern TV", trafen sich mit Barbara Schöneberger und redeten mit WDR-Talkmaster Domian. Sie werden geliebt, gefeiert und beschimpft. Nur über eines können sie sich nicht beschweren: mangelnde Aufmerksamkeit.
Auch die Schwangerschaft konnte man online verfolgen
Der Ort, von dem die progressive Botschaft in die Welt gesendet wird, ist nicht Köln oder Berlin. Stattdessen leben die Frauen in Eime, einem 1.800-Einwohner-Dorf in Niedersachsen. Stefanie Radtke arbeitet hier als Pfarrerin, ihre Frau Ellen als „Springerin" im Umland, also dort, wo gerade eine Pfarrerin gebraucht wird. Viel los ist nicht in Eime. Ein Traktor rollt über die Hauptstraße, hinter dem Ortsschild steht ein Blitzer. Außer einem Nachbarn, der die Straße fegt, ist niemand zu sehen. „Wenn Sie Spenden sammeln, müssen Sie hinten klingeln", sagt der ältere Herr, als ihn der Reporter nach dem Haus der Radtkes fragt. Hier kennt jeder jeden, so viel ist klar.
Stefanie Radtke (35) öffnet die Tür. Ihre Frau Ellen (36) sitzt im Wohnzimmer, auf dem Schoß: Tochter Fides, die im Oktober geboren wurde und den lateinischen Begriff für Glauben im Namen trägt. Auch darüber ist die Welt bereits informiert, denn im Internet kann man die komplette Schwangerschaft verfolgen – von der Suche nach einem Samenspender über die Hormonspritzen bis hin zur Abholung des tiefgekühlten Spermas aus Dänemark. Die Kosten? 2.000 Euro für die Hormone, 2.500 Euro für die Samenbank, 2.300 Euro für die Kinderwunschklinik. Plus Spesen. Ist so etwas nicht privat? Stefanie Radtke lacht: „Ich stehe hier und kann nicht anders", zitiert sie Luther und lacht.
Fides schläft. Genug Zeit also, um über die Motivation der Pfarrerinnen zu sprechen. „Wenn man Kirche googelt, findet man das ganze freikirchliche Zeug", sagt Stefanie Radtke. „Kein Sex vor der Ehe und alles." Solche „radikalen Christen" seien zwar in der Minderheit, aber extrem laut. „Da wollten wir etwas gegenhalten." Ellen Radtke ergänzt, dass sie aus dem Youtube-Alter eigentlich raus sei. „Wir haben schon lange über unsere Idee geredet, wussten aber nie so recht, wie wir es angehen sollten."
Durch Zufall trafen die Pastorinnen auf Vertreter des evangelischen Kirchenfunks. „Das sind Profis", sagt Ellen Radtke. „Die kennen sich sowohl mit den Sehgewohnheiten der jungen Leute als auch mit der Kirche aus." Und natürlich mit der Technik. Für die Szene im Kirchturm kam eine Drohne zum Einsatz. Bei Talkrunden im Kirchenstudio filmt ein ganzes Team. Hinterher werden die Clips geschnitten, vertont und mit Titelbildern versehen. „Wir filmen aber uns auch oft einfach selbst mit dem Handy", erklärt Radtke. „Manchmal produzieren wir sechs Videos im Vorlauf, manchmal setzen wir uns morgens hin und überlegen."
Preis für soziales Handeln verliehen
Die Themen gehen den Youtuberinnen bislang nicht aus. Neben banalen Dingen wie Fahrradausflügen oder Traktorfahrten widmen sich die Pastorinnen auch ernsten Fragen: Einsamkeit zu Pandemie-Zeiten. Corona-Leugner. Tod und Trauer. Dass beide offen lesbisch sind, spielt in vielen Videos eine Rolle. „In der Kirche sind wir damit herzlich willkommen", sagt Ellen Radtke. „Das glauben uns viele gar nicht, aber wir wollen es laut und deutlich sagen." Stefanie Radtke sieht auch eine Vorbildfunktion. Niemand solle sich wegen seiner Sexualität verstecken müssen: „Wo Privates politisch wird, zeigen wir das auch. Die Fragen sind eh da, nur würden sonst alle hinter unserem Rücken fragen, woher unser Kind kommt."
Die Reaktionen auf so viel Offenheit fallen höchst unterschiedlich aus. Schaut man auf den Youtube-Kanal, finden sich dort vor allem positive Kommentare. Eine 71-jährige Frau schreibt, sie sei heterosexuell und nicht religiös – und schaue trotzdem gern zu. Ein anderer fordert: „Macht mal einen CSD (Christopher Street Day, Anm. d. Red.)in Eime!" Regelmäßig bedanken sich gleichgeschlechtliche Paare über die Informationen zu Kinderwunsch und Coming-out. Im Sommer 2020 nominierte die Facebook-Stiftung den Videokanal für den „Smart Hero Award", der für soziales Handeln verliehen wird. Die Begründung: „Anders Amen" sei „bunt, laut und immer wieder für eine Überraschung gut."
Doch nicht alle Reaktionen fallen so freundlich aus. Nachdem die rechte Wochenzeitung „Junge Freiheit" davon schrieb, die Pfarrerinnen würden „ihr Amt zur Selbstvermarktung missbrauchen", hagelte es Kritik bis hin zu Drohungen, den Gottesdienst zu stören. Auch in der LGBTQ-Gemeinde sind nicht alle mit dem frechen Auftreten des Ehepaars einverstanden. „Manche Schwule finden uns zu bunt und zu schrill", sagt Stefanie Radtke. „Für die verkörpern wir genau die Klischees, von denen sie wegwollen." Zum Glück stehe das Dorf fest hinter den Pfarrerinnen: „Wir fühlen uns hier total willkommen. Hier passen alle aufeinander auf."
Überhaupt, das Dorfleben. „Hier gibt es die gleichen Probleme und Sorgen wie in der Großstadt", sagt Stefanie Radtke, die sich nach ihrem Studium in Berlin bewusst fürs Landleben entschieden hat. „Der Unterschied zur Großstadt ist, dass man die Probleme hier mitkriegt." Ob Youtube-Star oder nicht: Radtke ist trotz aller Bekanntheit auch eine normale Dorfpfarrerin. Sie spricht auf Beerdigungen, gibt Konfirmanden-Unterricht, leitet Seniorenkreise – wenn nicht gerade eine Pandemie dazwischenkommt. Sie lacht: „2020 hatten wir Zeit für unsere Videos."
Manche Leute halten auf der Durchfahrt extra für den Gottesdienst
Geld wollen die Radtkes mit ihrem Youtube-Kanal nicht verdienen, auch wenn sie es könnten. So habe bereits eine Firma angefragt, ob die Pfarrerinnen nicht diskret eine bestimmte Babytrage in die Kamera halten könnten. „Ich möchte kein Werbegesicht sein", entgegnet Stefanie Radtke. „Und wenn, dann nur für die Kirche." Dieser Wunsch ist vermutlich schon in Erfüllung gegangen. Regelmäßig melden sich junge Menschen bei den Radtkes, die Fragen zur Homosexualität haben. „Manche fragen uns, ob wir mitkommen, wenn sie sich vor ihren Eltern outen", sagt Stefanie Radtke. Nötig sei das am Ende bisher nicht gewesen, aber allein die Erreichbarkeit über das Internet werde von vielen geschätzt. „Was früher der Beichtstuhl war, ist heute die Direktnachricht bei Instagram", sagt Stefanie Radtke und lacht.
Bleibt die Frage, ob die Gottesfrauen ihr Ziel – mehr Toleranz, mehr Verständnis, mehr Normalität – erreicht haben. „Wir sind auf jeden Fall bekannter", sagt Ellen Radtke. „Manche Leute, die nach Süddeutschland in den Urlaub fahren, machen in Eime sogar Halt, um Stefanies Gottesdienst zu besuchen." Aber, auch das weiß sie, man könne es nie allen recht machen. „Der typische Kirchenbesucher hört Bach statt Pop. Wir wollen eine Kirche auch für RTL-II-Gucker sein."
Ob lesbisch, queer, transsexuell oder hetero: Die Kirche – zumindest ihre – stehe allen Menschen offen, beteuern die Pastorinnen. Warum aber nennen sie ihren Youtube-Kanal dann ausgerecht „anders"? Beide überlegen, bis Fides plötzlich wach wird und anfängt zu schreien. „Es gibt kein normal", sagt Stefanie Radtke. „Wir sind beide lesbisch, und noch ist das etwas Besonderes. Unser Ziel ist es aber, dass das ,anders‘ irgendwann wegfällt." Dann muss sich die Familie schleunigst verabschieden. Fides hat Hunger.