Der Westen rügt Nawalnys Festnahme in Russland – scheut aber Konsequenzen
Hatte ernsthaft jemand geglaubt, der russische Präsident Wladimir Putin habe plötzlich eine liberale Lässigkeit im Umgang mit Oppositionspolitikern entdeckt? Hatte ernsthaft jemand damit gerechnet, die Regierung lasse Alexei Nawalny, den größten Korruptions-Kritiker des Landes, bei seiner Einreise aus Deutschland an der langen Leine laufen? Laissez-faire nach Moskauer Art? Nein, der Kreml und seine Handlanger in der Justiz haben die alten Reflexe nicht verlernt. Das System zeigt seine repressive Macht. Nawalny wurde festgenommen, kaum dass er heimischen Boden unter den Füßen hatte. Und bekam 30 Tage Haft obendrauf – eine Gefängnisstrafe, die jederzeit verlängert werden kann.
Und der Westen? Reagierte wieder einmal mit einer Protest-Fanfare, die von Washington über Brüssel bis nach Berlin schallte. US-Außenminister Mike Pompeo, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Bundeskanzlerin Angela Merkel: Alle überboten sich in moralischen Verurteilungen Russlands und Appellen, Nawalny freizulassen.
Doch was folgt dieser Megafon-Diplomatie? Wenn man die Erfahrung heranzieht, muss man nüchtern feststellen: nichts. Es dürften weder die Sanktionen gegen Russland verschärft noch das umstrittene Erdgas-Projekt Nord Stream 2 eingestellt werden. Beides würde Putin weh tun. Selbst nach der brutalen Chemiewaffen-Vergiftung Nawalnys in Sibirien im August gab es lediglich ein paar Wochen lang einen Aufschrei der Empörung in der deutschen Politik. Einzelne brachten gar einen Stopp oder zumindest ein Moratorium von Nord Stream 2 ins Spiel. Doch danach ebbte die Welle ab. Man ging zur Tagesordnung über. Auch dieses Mal dürfte bald wieder „Business as usual" herrschen.
Putin kennt die Mechanismen der westlichen Politik. Deshalb nimmt er die Aufwallungen des Zorns kühl zur Kenntnis. Dabei ist Nawalny für den russischen Präsidenten keineswegs so harmlos, wie dieser das gern behauptet. „Wer braucht den schon?", spottete er kürzlich auf seiner Jahrespressekonferenz, ohne ihn beim Namen zu nennen. In Wahrheit fürchtet der Autokrat die erodierende Wirkung der Kritik, die sein Macht-System unterhöhlen könnte. Nawalny spielt auf der Klaviatur der sozialen Medien, die der Moskauer Kontroll-Apparat nicht ausschalten kann. Und er legt mit seinen beißenden Enthüllungen über die korrupten Auswüchse von Oligarchen und Spitzenpolitikern den Finger in eine Wunde.
Man mag Nawalnys Mut bewundern. Man mag ihn als tollkühn bezeichnen, wie er es frontal mit dem System Putin aufnehmen will. Der 44-Jährige kann allerdings nicht auf die Mehrheit der Bevölkerung zählen. Viele Russen sind lethargisch bis apathisch, haben sich mit der Mehltau-Herrschaft des Kremlchefs arrangiert. Oder sie haben einfach Angst. Die Propaganda-Maschinerie der Staatsmedien wirkt, die Nawalnys Aktionen verschweigt oder mit Störmanövern westlicher Geheimdienste in Verbindung bringt. Massen-Proteste wie nach den mutmaßlich gefälschten Parlamentswahlen 2011 sind jedenfalls nicht in Sicht.
Selbst die junge Generation, weltweit oft an der vordersten Front der Regime-Kritik, ist auffallend passiv. „Die jungen Leute von 16 bis 25 Jahren sind die unpolitischsten Menschen in Russland", betont der Soziologe Lew Gudkow vom unabhängigen Moskauer Lewada-Zentrum. „Sie sind hedonistisch, in gewisser Weise infantil, streben nach Konsum und Unterhaltung." Auch wenn die Opposition den Vergleich gern aufmacht: Ein russischer Nelson Mandela ist Nawalny nicht – der südafrikanische Freiheitskämpfer und Langzeit-Häftling hatte eine Mehrheit der Menschen hinter sich.
Ohne mehr Rückhalt in der Bevölkerung wird die russische Opposition wenig Chancen haben, Putin ernsthaft in Bedrängnis zu bringen. Die westliche Politik wiederum muss sich entscheiden: Mit moralinsauren Aufrufen wird sie den russischen Präsidenten nicht beeindrucken. Scharfe Sanktionen träfen ihn, vor allem das Aus für das Pipeline-Vorhaben Nord Stream 2 wäre ein Schlag ins Kontor der russischen Energie-Wirtschaft. Dafür müsste aber auch hierzulande ein hoher Preis bezahlt werden, denn die beteiligten Unternehmen werden Schadenersatzforderungen erheben. Den will derzeit niemand aufbringen. Putin weiß das – und er kalkuliert damit.