Dem saarländischen Handwerk geht es, bis auf einige extrem unter Druck stehende Ausnahmebranchen, relativ gut. Bernd Reis, seit Anfang 2021 Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer, zeigt sich jedoch besorgt: Die Azubi-Zahlen sind im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen.
Herr Reis, auch saarländische Handwerksbetriebe mussten Hilfsgelder seit Beginn der Corona-Krise in Anspruch nehmen. Die Kritik daran ist aber in den vergangenen Wochen lauter geworden. Auch hier im Saarland?
Ja. Wir sehen, die Bundesregierung nimmt viel Geld in die Hand. Was viele nicht sehen, ist der Aufwand, der betrieben werden muss, um die Gelder zu erhalten. Auf Nachfrage hat das saarländische Wirtschaftsministerium kürzlich auf insgesamt über 27.000 bearbeitungsfähige Anträge verwiesen. 21.000 erhielten einen positiven Bescheid. Aber die aktuellen Fördergelder werden vom Bund direkt vergeben. Man befürchtet wohl, dass es erneut Antragssteller gibt, die unberechtigt in mehreren Bundesländern diese Anträge stellen. Deshalb besagen auch die Richtlinien zur Vergabe, man braucht Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer oder Rechtsanwälte sowie das Steuerportal Elster. Dies alles verzögert die Antragstellung. Nun sind Betriebe wie Frisöre oder Kosmetiker oftmals eingemietet in ihre Räumlichkeiten. Während die Fixkosten weiterlaufen, bleiben die Erträge aus. Mittlerweile werden über die Überbrückungshilfen aber nur noch jene Fixkosten erstattet. Die Menschen leben ja von den Erträgen. Das bedeutet, dass diejenigen, die diese Hilfe in Anspruch nehmen, trotzdem schauen müssen, womit sie ihren eigentlichen Lebensunterhalt finanzieren. Deshalb will ich auch die Banken in die Pflicht nehmen, die Partner unserer Betriebe sind und jetzt denjenigen, die im Regen stehen, zur Seite stehen müssen. Speziell hier können wir mit einer positiven Zukunftsprognose dem Betrieb helfen. Antragsberechtigt für Förderleistungen sind wir allerdings nicht, das müssen unsere Betriebe über den eingangs beschriebenen Weg selbst tun.
Einzelne Branchen sind sehr stark betroffen, andere wiederum überhaupt nicht. Wie geht es dem saarländischen Handwerk insgesamt?
Sehr viele der Gewerke sind von der Corona-Pandemie kaum betroffen, wozu insbesondere das Bau- und Ausbauhandwerk gehört. Leiden müssen allerdings diejenigen, die von heute auf morgen die Geschäfte schließen mussten. Hierzu zählen insbesondere die Friseurbetriebe, aber auch die Kosmetiker. Wir haben in unserem Kammerbezirk und damit im Bundesland Saarland rund 1.000 Frisörbetriebe. Denen tut diese Maßnahme extrem weh.
Befürchten Sie vor allem in diesen Branchen eine Pleitewelle in den kommenden Monaten? Der Insolvenz-Schutzschirm lief im Januar aus.
Derzeit sehen wir noch keine Anzeichen dafür. Insofern hoffen wir, dass die besagten Hilfsgelder das Schlimmste verhindern können. Wir haben aber eine andere erstaunliche Entwicklung feststellen können: einen Zuwachs an Betrieben. Im Saarland gab es im Januar 2020 12.100 Handwerksbetriebe, nun sind es 12.500 – trotz Corona. Wenn nun einzelne Betriebe tatsächlich schließen müssen, wird es im Markt alsbald neue Anbieter geben. Sie können froh sein, dass die Regierung den ganz harten Lockdown, also mit Schließung aller Betriebe, nicht erwogen hat. Das hätte sich das Handwerk und das hätten sich andere Wirtschaftszweige nicht leisten können. Insbesondere im Handwerk hätte dies eine sofortige Notlage bedeutet, denn viele unserer Leistungen und Produkte können wir eben nicht online verkaufen, wie das beispielsweise der Handel noch kann.
Befürchten Sie, dass mehr überschuldete Privathaushalte, also die Nachfrager nach Handwerksleistungen, im laufenden oder kommenden Jahr Auswirkungen auf das Handwerk haben werden?
Es gibt Studien, die ein Szenario einer stärkeren Pleitewelle skizzieren. Ich habe meinen Azubis immer gesagt: Wenn ihr euch auf einen Werkvertrag einlasst, stellt sicher, dass der Vertragspartner auch zahlen kann. Die Gefahr besteht vor wie nach der Pandemie. Vermehrte Privatinsolvenzen entziehen dem Markt aber Kaufkraft und damit sinkt die Nachfrage. Dies gilt im Handwerk vor allem in jenen Gewerken, die was für unsere Schönheit und unseren Genuss anbieten. Frisöre und Konditoren sind hier ein Beispiel. Wenn Geld knapp wird, verschiebt man den Frisörbesuch schon mal um ein paar Tage oder Wochen und kauft die Torte eben nicht. Diese Gewerke haben immer von Zeiten profitiert, in denen gute Kaufkraft vorhanden war. Dass der Kaufkraftverlust aber in naher Zukunft so hoch wird und beginnt, sich gravierend auszuwirken, glaube ich nicht. Die Botschaft jedoch, auch dies im Auge zu behalten, ist richtig.
Die Zahl der saarländischen Azubis ist vergangenes Jahr um mehr als zehn Prozent gesunken. Hatte die Pandemie Auswirkungen auf die Nachwuchskräfte?
Zunächst einmal hat auch das Handwerk einen Rückgang bei den Lehrlingszahlen um rund neun Prozent zu beklagen. Lehrlinge konnten zwar ihre Ausbildung zeitnah beginnen, allerdings unter strengen Hygiene- und Arbeitsschutzmaßnahmen. Was uns fehlt, sind jedoch die Interessenten für die noch immer hohe Zahl an freien Lehrstellen. Was braucht ein Unternehmen, um erfolgreich zu sein? Es braucht Finanzressourcen und Personalressourcen. Bei der Sicherung der Finanzressourcen hilft der Staat, und es helfen auch die Banken. Zweifelhaft bleibt die Sicherung der Personalressourcen. Ich befürchte, dass – wenn die Nachfrage nach handwerklichen Leistungen wieder steigt – den Betrieben die Personalressourcen fehlen werden. Das ist ein weiterer großer Schaden aus der Pandemie, der uns sehr beunruhigt und auch im Handwerk quasi zu einem „Ausfalljahr" auf der Seite der Personalressourcen führen könnte.
Welche Gründe sehen Sie dafür?
Uns fehlt coronabedingt die direkte Ansprache. Ausbildung im Handwerk lebt von der Mund-zu-Mund-Werbung. Wir sprechen unsere Nachwuchskräfte in den Schulen an; bieten Praktika an; im Saarland kennt man jemanden, der jemanden kennt, der sich für den Beruf interessiert, in der Familie oder im Freundeskreis, und damit hatten wir in der Vergangenheit Erfolg. Das alles fehlt uns jetzt. Vor allem die berufsorientierenden Maßnahmen in den Schulen, die Berufsmessen, der Tag des Handwerks.
Haben auch die derzeitigen Unsicherheiten an den Schulen, die Debatten um Online- und Präsenzunterricht, um Abschlüsse, Auswirkungen auf die mangelhaften Azubizahlen?
Das möchte ich nicht ausschließen. Ich bin zum Beispiel nicht dafür, dass man die Hauptschüler nicht einer Prüfung unterzieht. Der Handwerker, der in einen Azubi Zeit und Geld investiert, will wissen, ob dieser am Ende seiner Ausbildung auch erfolgreich sein wird. Dann wartet auf den Lehrling die Gesellenprüfung, die neben dem praktischen auch einen theoretischen Teil verlangt. Es nutzt wenig, wenn der oder die Auszubildende ein gutes Handwerk abliefert, aber in der Theorie nicht bestehen kann. Viele Ausbildungsbetriebe wollen daher den Leistungsnachweis, das ist nun mal der Hauptschulabschluss, und deshalb wollen wir im Handwerk darauf nicht verzichten. Wir können auch nicht ausschließen, dass wegen der Unsicherheit in der Vergangenheit sowohl Ausbildungsbetriebe als auch Azubis erst einmal vor einer Ausbildung zurückgeschreckt sind. Unabhängig davon bleiben nicht wenige Klagen von Betrieben, die während der Ausbildung feststellen, dass ihre Azubis doch deutliche Defizite im schulischen Bereich haben. Das reißt nicht ab und ist mit ein Grund der Beunruhigung.
Was tun Sie stattdessen?
Wir sind als Handwerkskammer auch in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zur Ansprache junger Menschen und neuer Zielgruppen für das saarländische Handwerk. Seit 2016 stellen wir auf unserem HWK-eigenen Youtube-Kanal „Mach Dein Ding!" Ausbildungsberufe in saarländischen Handwerksunternehmen vor. Mittlerweile können wir auf den 29 Videos über 1,2 Millionen Zugriffe verzeichnen. Allein das Video über den Tischler- und Schreinerberuf erzielte bisher über 165.000 Aufrufe und ist damit eines der erfolgreichsten Videos zum Thema „Ausbildung im Handwerk" im deutschsprachigen Bereich auf Youtube. Wir sind also nicht untätig, sondern suchen neue Wege.
Wie sieht denn das kommende Ausbildungsjahr aus?
Wer jetzt nicht in die Ausbildung gekommen ist, wird eine neue Chance in diesem Jahr bekommen. Vor Beginn dieses kommenden Ausbildungsjahres 2021 haben wir etwas Vorlauf im Gegensatz zum Ausbildungsjahr 2020, als die Pandemie unvermittelt zugeschlagen hat. Wir können also noch Maßnahmen ergreifen, und ich habe den Eindruck, das Thema ist der Politik in seiner Deutlichkeit angekommen. Das Bundeswirtschaftsministerium will die Fachkräftesicherung besonders in den Fokus nehmen. Auch das saarländische Wirtschaftsministerium hat zusätzliche Kampagnen speziell auch zur Unterstützung des Handwerks angekündigt und will noch forcierter auf die Ausbildung hinzuweisen. Was uns nach wie vor noch fehlt, ist die Zusammenarbeit mit den Schulen: Handwerker, die dort ihre Gewerke vorstellen können oder Schüler, die mit ihren Lehrern zu uns kommen und mit unseren Meistern in einer Ausbildungswerkstatt einmal arbeiten können. All das ist derzeit leider noch nicht möglich.
Ist die Digitalisierung der Handwerkskammer eine Ihrer Hauptaufgaben als neuer Hauptgeschäftsführer?
Wir haben uns 2015 schon auf den Weg gemacht, hier einen Wandel zu vollziehen und einen Katalog von 108 Maßnahmen erarbeitet. Nun haben wir die Maßnahmen evaluiert und festgestellt, dass bereits 80 davon erfolgreich umgesetzt wurden. Einige Maßnahmen stehen noch in der Umsetzung, einige andere haben sich inzwischen als nicht mehr erforderlich gezeigt. 2019 haben wir den Businessplan Bildung mit 42 Maßnahmen bis 2025 aufgesetzt. 2020 erarbeiteten wir den Digitalisierungsfahrplan, weil wir als Körperschaft des öffentlichen Rechts auch Onlineangebote machen müssen: den Eintrag in die Handwerksrolle oder Prüfungsformulare beispielsweise. Wäre dies alles nicht gewesen, hätte mich die Vollversammlung wohl kaum ausgesucht, weiterzumachen. Vom Alter her hätte ich alsbald schon in den wohlverdienten Ruhestand gehen können. Wenn man aber 37 Jahre in einer Organisation tätig ist, davon 19 Jahre lang als stellvertretender Hauptgeschäftsführer, hat man gegenüber seiner Organisation auch eine persönliche Verpflichtung. Umso mehr, als wir aktuell auch den Neubau unserer Bildungsstätte angehen werden. Dort stehen wir mitten im Projekt, leiten nun die Bauphase dieses voraussichtlich 45 Millionen Euro teuren Neubaus ein. Bei dieser großen Aufgabe haben uns Bund und Land finanzielle Unterstützung zugesagt, die Handwerkskammer könnte mit ihrem überschaubaren Haushaltsbudget von jährlich etwa 13,5 Millionen Euro ein solches Projekt nicht alleine stemmen. Das war ein weiterer Grund, weshalb mich auch der Vorstand gebeten hat, in dieser jetzt so spannenden Phase der Entwicklung noch zu bleiben. Dieser Bitte konnte ich mich nicht entziehen, denn die Arbeit stellt mich immer noch zufrieden und macht mich auch stolz – aber den stärksten Kampf hatte ich in dieser Entscheidung mit meiner Ehefrau zu führen.