Zielgerichtete Maßnahmen statt Aktionismus in der Corona-Krise: Dies fordern Wissenschaftler um den Mediziner Prof. Dr. Matthias Schrappe sowie der Strafverteidiger Dr. Gerhard Strate. Beide kritisieren den Schlingerkurs der Bundesregierung.
Seit fast einem Jahr befinden wir uns im coronabedingten Ausnahmezustand. Hat Deutschland die erste Corona-Welle im Frühjahr letzten Jahres im Vergleich zu anderen Ländern noch relativ gut gemeistert, scheint das Land die zweite Welle nicht so richtig in den Griff zu bekommen. Trotz fortwährender Lockdowns und verschärfter Kontaktbeschränkungen wollen die Infektions- und Todeszahlen einfach nicht zufriedenstellend sinken. Bundesregierung und Landesregierungen fahren bei ihren Maßnahmen auf Sicht, nach dem Prinzip Hoffnung. Die handelnde Politik muss sich verstärkt den Vorwurf gefallen lassen, statt zielgerichteter Maßnahmen blinden Aktionismus zu betreiben und im Sommer wertvolle Zeit verplempert zu haben.
Noch einen Schritt weiter gingen bei einer Veranstaltung in Saarbrücken der Mediziner Prof. Dr. Matthias Schrappe und der Anwalt und Verfassungsrechtler Dr. Gerhard Strate im Gespräch mit Peter Stefan Herbst, Chefredakteur der „Saarbrücker Zeitung". Schrappe gehört der bundesweiten multidisziplinären Autorengruppe an, die im Sommer ein epidemiologisches Konzept zur Eindämmung der Corona-Pandemie erarbeitet hatte. Außerdem war er einer der „Gesundheitsweisen" der Bundesregierung und entwickelte mit anderen Wissenschaftlern seit April mehrere Thesenpapiere, die die Strategie der Bundesregierung zum Teil kritisieren. Nun wirft Schrappe der Bundesregierung schlicht und ergreifend Beratungsresistenz vor. Verfassungsrechtler Strate geht sogar noch einen Schritt weiter und bezeichnet den so viel beschworenen Inzidenzwert von 50 – sprich 50 Neuinfektionen an sieben aufeinanderfolgenden Tagen pro 100.000 Einwohner – als willkürlich festgelegten Wert, der jeglicher rechtlichen Grundlage entbehrt. Die viereinhalbseitige Stellungnahme der Wissenschaftsakademie Leopoldina, auf die sich Bundeskanzlerin Angela Merkel beruft, sei für ihn ein unwissenschaftliches, klägliches Papier, das aus der Feder eines Abiturienten hätte stammen können. Harter Tobak gegen ein zunehmend in die Kritik geratenes Krisenmanagement der politisch Handelnden. Es sei einfach keine Strategie, nur Durchhalteparolen an die Bevölkerung auszusenden, zu maßregeln und sich von einem Lockdown in den nächsten zu hangeln.
Während der Lockdown in der ersten Welle von Schrappe und Strate im Grunde genommen akzeptiert wird, schließlich hatte man im Frühjahr relativ wenig fundiertes Wissen über das Coronavirus, offenbart das Krisenmanagement in der zweiten Welle ihrer Meinung nach große Mängel. Auf die Palme bringt den bundesweit bekannten Strafverteidiger Strate vor allem der willkürlich festgelegte Inzidenzwert, der mithilfe des Infektionsschutzgesetzes vom November 2020 Grundlage für Maßnahmen ist, das soziale Leben einzuschränken. „Das Zustandekommen des Werts ist von Zufällen bestimmt wie etwa dem Meldestau der Gesundheitsämter über die Weihnachtsfeiertage oder an Wochenenden sowie der durchgeführten Testungen. Hinzu kommt eine hohe Grauzone, da man ja gar nicht weiß, wie viele Menschen wirklich mit dem Virus infiziert sind." Daraus gesetzmäßige Auflagen für Kontaktbeschränkungen und Verbote zu entwickeln, sei für ihn rechtlich grenzwertig. Er dürfe beispielsweise einen Gerichtstermin mit mehreren Personen in einem Raum natürlich unter Beachtung der Hygiene-Vorschriften wahrnehmen, aber ein gastronomischer Betrieb, der ebenfalls Hygiene-Konzepte vorbildlich umsetzt und dafür viel Geld in die Hand genommen hat, darf nicht öffnen. Dann die mentalen Folgen. „Menschen brauchen auch Kommunikation außer Haus." Man könne sie nicht willkürlich wegsperren. Bereits im zurückliegenden Jahr haben Gerichte die Landesregierungen des Öfteren zurückgepfiffen bei der Beurteilung, ob eine Maßnahme angemessen war oder nicht. „Ich rechne mit einer enormen Klagewelle, vor allem von Betrieben, die wegen der Schließungen in ihrer Existenz bedroht sind, wenn die Pandemie vorbei ist."
„Wir brauchen die Expertise vieler unterschiedlicher Wissenschaftler"
Prof. Schrappe warnte davor, die Pandemie nur rein biologisch zu sehen. Sie müsse auch gesellschaftlich betrachtet werden mit den Folgen für viele Menschen. Daher plädiert er für ein differenziertes Vorgehen. „Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Wir beklagen im Januar rund 5.000 Corona-Tote pro Woche in Deutschland, davon rund 4.000 bei über 70-Jährigen. Wenn es gelingt, in den nächsten Wochen durch die Impfung der vulnerablen Gruppen die Todeszahlen drastisch zu senken, heißt das aber noch lange nicht, dass die Infektionszahlen in der Bevölkerung sinken. Im Gegenteil: Sie werden vielleicht sogar zunehmen und die Inzidenzzahlen nach oben treiben, auch wenn die Todeszahlen runtergehen. Wie mögen wohl die Menschen damit umgehen, wenn die Antwort der Politik immer nur Verschärfung der Maßnahmen lautet? Denn die strengen Maßnahmen rechtfertigt die Politik immer mit der Überlastung unseres Gesundheitssystems."
Es sei absolut richtig, die vulnerablen Gruppen aktiv zuerst zu schützen und entsprechende Schutzprogramme zu entwickeln. „Das, was momentan hierzulande passiert, sprich steigende Zahlen, haben wir in unserem Konzept allerdings schon im September vorausgesagt", so Schrappe. Die Bundesregierung habe aber nur die kalte Schulter gezeigt und höre nur auf Grundlagenwissenschaftler. Infektiologen oder Mikrobiologen, von denen es in Deutschland sehr viele mit internationaler Anerkennung und Erfahrung gebe, seien nicht einmal im engen Beraterstab zu finden, lautet der Vorwurf. „Wir hoffen nicht, dass bei der angelaufenen Impfkampagne die Fehler wiederholt werden. Wir brauchen die Expertise vieler unterschiedlicher Wissenschaftler. Eine ganze Bevölkerung zu impfen, ist ein sehr komplexer Prozess und bedarf enormer Aufklärungsarbeit. Wir riskieren bei einem ‚Weiter so‘ das Scheitern der Kampagne", warnt Prof. Schrappe.
Doch was kann man tun, um diese prekäre Lage in den Griff zu bekommen? Neben mehr Aufklärungsarbeit, einem verlässlicheren Zahlenwerk zur Bildung sogenannter Kohorten und gezielter Schutzprogramme wäre Führung in einer Krise gefragt. „Dass wir das können, haben wir in Deutschland doch in der Vergangenheit bei Krisen des Öfteren bewiesen", so Schrappe. „Wir brauchen einen Aufbruchgeist." Die Politik appelliere an die Verantwortung der Bürger, aber missachte selbst ihre Führungsverantwortung.
Strate sieht im Aktionismus der Bundesregierung sogar ein bürokratisches Machtbewusstsein. „Wir leben Gott sei Dank seit 70 Jahren in einem Rechtsstaat mit Grundgesetz. Viele Corona-Maßnahmen schießen aber über das Ziel hinaus. Wie kann man beispielsweise einem Eigentümer, der in Mecklenburg-Vorpommern einen Zweitwohnsitz hat, die Einreise aus einem anderen Bundesland verbieten? Auf welcher Rechtsgrundlage basiert so etwas? Was hat so etwas mit Ansteckungsgefahr zu tun?"
Hier liege noch einiges an Konfliktpotenzial in der Luft, denn immer mehr Bürger würden sich mit zunehmender Pandemie-Dauer mit immer stärkeren Einschränkungen nicht einverstanden erklären, malt Strate schon mal ein Szenario. „Die Politik sollte mehr den Bürgern vertrauen, anstatt nur zu maßregeln." Er sieht in Zukunft schwedische Verhältnisse auf Deutschland zukommen. Schließt ein Mehr an Sicherheit in der Corona-Pandemie die Freiheit aus? Für Strate sei das kein Widerspruch, aber im Zweifel würde er immer für die Freiheit plädieren, anstatt überzogener und willkürlicher Sicherheitsmaßnahmen. „Wir benötigen wieder mehr Vernunft im politischen Umgang." Außerdem gebe es auch andere wichtige Themen als nur Corona.
Matthias Schrappe sieht die Gefahr der Flucht in ein Schwarz-Weiß-Denken: In die Gruppe der Corona-Leugner und die Gruppe mit jakobinischem Eifer, nach dem Motto: Für mich oder gegen mich sein. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Gesprächsbereitschaft zunimmt und gemeinschaftlich für rationales Handeln in der Krise sorgen", so sein dringender Appell an alle, um die unsägliche Krise besser in den Griff zu bekommen.