Bleibt die Nord-Stream-Pipeline unvollendet? Angela Merkel und US-Präsident Joe Biden wollen bald über die Gasleitung in der Ostsee verhandeln. Die Skepsis über die Notwendigkeit von Nord Stream 2 existiert bereits seit Vertragsunterzeichnung.
Es wirkte wie ein letztes, giftiges Goodbye, das die Trump-Administration am Tag der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Joe Biden an die deutsche Regierung sandte. Auf den letzten Metern informierte die US-Regierung Berlin über Sanktionen, die das russische Verlegeschiff „Fortuna" und ihre Eigentümerfirma betreffen – ohne vorher darüber zu verhandeln. Daraufhin sprang eine norwegische Firma vom Projekt Nord Stream 2 ab. Sie sollte die geplante Pipeline zwischen dem russischen Ust-Luga und Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern zertifizieren, damit sie überhaupt in Betrieb gehen kann. Zuvor hatte sich bereits eine Schweizer Verlegefirma, dann der deutsche Bauriese Bilfinger aus dem Projekt zurückgezogen, kürzlich auch die Schweizer Zürich Versicherung. Dann die Verhaftung des erst kürzlich in Deutschland wegen eines Giftanschlages behandelten Kreml-Kritikers Alexander Nawalny, Proteste und Verhaftungen von Demonstranten: Der Druck auf die Bundesregierung stieg, auch bei Nord Stream 2 Konsequenzen aus dem Verhalten von Regierungschef Wladimir Putin zu ziehen.
Abhängigkeit von Erdgas-Importen
Mit der neuen US-Regierung wird der Ton in Sachen „Nord Stream 2" nun nicht weniger bestimmt, sondern nur höflicher. Antony Blinken, neuer Außenminister der USA, hat bereits bei seiner Anhörung vor dem US-Senat deutlich gemacht, dass die Pipeline eine „schlechte Idee" sei. Präsident Joe Biden bezeichnete sie als „schlechten Deal für Europa", will aber mit Deutschland weiter darüber sprechen. Nach Jahren unter dem öffentlichen Radar rückten die beiden Pipelines wieder ins Rampenlicht.
Trotz der US-Sanktionen arbeitet die „Fortuna" erst einmal weiter. Nur noch etwa 70 Kilometer trennen die Pipeline vom deutschen Festland. Der Konflikt aber lässt den Bau auf den letzten Kilometern stocken – und ist nicht neu. Jahrelang hatte Berlin versucht, den Bau der beiden Pipelines als rein wirtschaftliches Projekt zu verkaufen. Deutschland und Europa brauchen Gas, hieß es, denn der Brennstoff ist der zweitwichtigste nach Erdöl für die Union. Deutschland verbrauchte 2019 nach Angaben des Bundesverbandes Erdgas umgerechnet etwa 89 Milliarden Kubikmeter Erdgas, Nord Stream 1 und 2 würden nach Fertigstellung Gas im Umfang von insgesamt 110 Milliarden Kubikmeter jährlich heranschaffen – wohlgemerkt für ganz Europa, denn die Pipeline wird mit weiteren Trassen quer durch die EU verbunden sein. Wenn sie fertiggestellt wird.
Aber wird sie auch gebraucht? Die Unterschiede im Erdgasverbrauch innerhalb der EU sind groß: Länder wie Italien mit einem hohen Anteil von Erdgas am landeseigenen Energiemix beziehen 100 Prozent ihres Erdgases aus Importen; Schweden ebenfalls, doch ist der Gas-Anteil am Energiemix weitaus geringer als in Italien, während Dänemark, die Niederlande und Norwegen selbst aus eigenen Gasvorkommen schöpfen können. In Deutschland verweist das Bundeswirtschaftsministerium auf die hohe Importabhängigkeit von Anbietern aus Norwegen, den Niederlanden und „sonstigen Ländern", darunter afrikanische Staaten und Russland. Auch hierzulande ist Gas der zweitwichtigste Brennstoff, die Importquote mit circa 93 Prozent etwas geringer als in Italien.
Das wichtigste Argument hierbei: Man benötige Erdgas als Brückentechnologie der deutschen Energiewende, wolle man Kohlekraftwerke und Atommeiler herunterfahren – vor allem in der winterlichen Heizperiode. Gleichzeitig geht die EU-interne, auch die deutsche, Produktion von Gas zurück, die fossilen Reserven schwinden. Nord Stream 2 selbst malt das Menetekel einer Versorgungslücke von 125 Milliarden Kubikmetern Gas für die EU an die Wand, angesichts der zurückgehenden Investitionen traditioneller europäischer Gasförderländer wie Norwegen in neue Gasvorkommen.
Ob das Projekt tatsächlich rein wirtschaftlich sei, bezweifelte von Anfang an etwa das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Das größte deutsche Wirtschaftsforschungsinstitut erforscht vor allem in Person von Energieökonomin Claudia Kemfert nachhaltige Energiepolitik. Publikationen des DIW sprechen seit Jahren davon, dass die Energieversorgungssicherheit des Landes nicht von Nord Stream abhängt. Kemfert selbst erklärte in einer Twitterbotschaft, dass die Erdgasemissionen sinken müssen, will Deutschland seine Emissionsziele erreichen. „Wir benötigen gar keine neuen Erdgasinfrastrukturen, weder Pipelines noch LNG-Terminals."
Das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) befasst sich im Kompetenzzentrum Energiepolitik und Energiemärkte ebenfalls mit der Zukunft des Erdgases in Deutschland. Demnach sinkt der Primärenergieverbrauch bei Erdgas – die Energie, die beispielsweise einem Haushalt zugeleitet wird – gegenüber 2015 um 24 bis 30 Prozent, der Endenergieverbrauch an Erdgas – das, was tatächlich beispielsweise zum Heizen gebraucht wird – um 29 bis 37 Prozent. „Die größte Abnahme findet sich im Gebäudesektor, aber auch in der Industrie und bei der Stromerzeugung gibt es in den Szenarien einen substanziellen Rückgang des Gasverbrauchs. Im Verkehrsbereich wird hingegen von einer leichten Zunahme ausgegangen", so Dr. Jakob Wachsmuth vom Fraunhofer-Institut. Auch Wachsmuth betont: Der Erdgasverbrauch müsse bis 2050 sinken, damit Deutschland die vertraglich festgelegten Klimaziele erreichen kann.
Institute: Gasverbrauch sinkt
Mehr Flüssiggas-Terminals (LNG) in der EU dagegen würden vor allem die USA gern sehen, denn damit könnten die Vereinigten Staaten ihre jüngst ausgeweitete Produktion an Erdgas besser verkaufen. Nach Zahlen der US-Energiebehörde EIA ist der Export von Flüssig-Erdgas seit 2015 sprunghaft angestiegen: von knapp einer Milliarde Kubikmeter auf 51 Milliarden Kubikmeter. Dafür braucht es Abnehmer, unter anderem die transatlantischen Partner, einer der wichtigsten derzeit: Großbritannien. Die EU aber hat vier Jahre vor dem US-Erdgasboom den Nord-Stream-Vertrag unterschrieben. Deutsche Firmen wie Wintershall sind in den russischen Energiesektor eingestiegen, umgekehrt hat der russische Staatskonzern Gazprom dadurch Einfluss auf den deutschen Energiemarkt und über Nord Stream auch auf die Zuleitung von Erdgas erhalten – auch dies ist den USA ein strategischer Dorn im Auge.
Mit der Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens 2015 und des EU-Green Deals kommen nun zwei weitere Faktoren ins Spiel, die bei Vertragsabschluss von Nord Stream 2 nicht auf der Rechnung standen: das EU-weite Senken von Emissionen, das Einhalten internationaler Verträge. Die Lösung: Aus politischen Gründen die Importabhängigkeit von einem, potenziellen russischen, Großlieferanten auf mehrere kleine zu verteilen. Dies ist nach Berichten des Centrums für Europäische Politik in Freiburg auch das Ziel der EU-Kommission – die zwar deshalb gegen Nord Stream 2, aber auch gegen Sanktionen ist.
Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat sich ebenfalls mit Nord Stream 2 beschäftigt und unterstreicht in seinem Papier die Bedenken des DIW, des Ökoinstitutes Freiburg sowie der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Bundesregierung steht allerdings auf dem Standpunkt, dass die Energiewende zu einem erhöhten Gasverbrauch in Deutschland führen könnte. Konjunktiv. Aber sie will sichergehen, dass genügend vorhanden ist, falls die energetischen Modernisierungsleistungen im Bausektor oder in der Industrie nicht ausreichen, den Gasverbrauch so weit zu senken, dass Nord Stream überflüssig wäre.
Berlin wartet nun auf das Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin und dem neuen US-amerikanischen Präsidenten. Angela Merkel und Joe Biden müssen auf höchster Stelle ausloten, auf welche Weise die transatlantische Partnerschaft erneuert und – aus deutscher Sicht – das Projekt Nord Stream dennoch überleben kann. Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag will der neuen US-Regierung mit höheren Verteidigungsausgaben und einem stärkeren deutschen Engagement bei der Stabilisierung von Krisenregionen in Afrika und im Nahen Osten entgegenkommen. Die Abgeordneten der Union beschlossen in einem Positionspapier eine Neuaufstellung der transatlantischen Beziehungen. Zum derzeitigen Hauptstreitthema zwischen Deutschland und den USA, der Ostsee-Pipeline, enthält das Papier dagegen keinen konkreten Lösungsansatz. „Wir streben eine engere energiepolitische Zusammenarbeit mit den USA an, mit der auch der Streit um Nord Stream 2 überwunden werden kann", heißt es darin lediglich. Ob sich die USA jedoch mit einer Neuausrichtung einer gemeinsamen Außenpolitik und dem x-ten Versprechen, die Nato-Beiträge endlich anzuheben, zufriedengeben werden, darf bezweifelt werden.