Die Schulen sind in diesem Lockdown viel besser gerüstet als noch vor einem Jahr. Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst (SPD), derzeit auch Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, sieht die Förderprogramme endlich Schritt für Schritt greifen.
Frau Ernst, die Schulen und die Schulpolitik bekommen derzeit viel Kritik ab. Hat man den Sommer nicht genug genutzt, um sich auf die Corona-Winterwelle vorzubereiten?
Doch. Im letzten Jahr ist die Nutzung digitaler Angebote und Kommunikationsmittel enorm gestiegen. Viele Länder haben ihre Plattformangebote ausgebaut und systematisch sichere Kommunikationswege etabliert – in Form von E-Mails für die Lehrkräfte, Videokonferenztools, Endgeräten für einige Schülerinnen und Schüler, und auch die Anschaffung von Dienstgeräten für Lehrkräfte ist auf dem Weg. Auch für den Support haben Bund und Länder mit einem eigenen Programm gesorgt. Diese Maßnahmen werden nun Schritt für Schritt greifen, und insgesamt sehe ich die Schulen in diesem zweiten Lockdown sehr viel besser gerüstet als noch im letzten März. Außerdem haben die Schulen den Sommer genutzt, um Pläne für Distanz-, Hybrid- und Wechselunterricht vorzubereiten. Viele Schulen haben dabei von den Erfahrungen und Erkenntnissen profitiert, die sie während der ersten Welle sammeln konnten. Zudem hat sich die Kultusministerkonferenz (KMK) eng abgestimmt und auch Meinungen von Experten eingeholt. Man muss aber ehrlicherweise einräumen, dass die Versäumnisse der letzten fünf bis acht Jahre in der digitalen Bildung nicht innerhalb eines Jahres nachgeholt werden können. Hier hat es in den letzten Monaten eine große Aufholjagd gegeben, aber ich gebe zu, wir wären gerne weiter.
Oft hört gehört, die digitale Infrastruktur in den Schulen reicht nicht aus. Dabei gab es doch die Milliarden aus dem Digitalpakt. Kam das Geld noch nicht an?
Die Nutzerzahlen der Lernplattformen sind im Vergleich zu von vor zwölf Monaten enorm gestiegen. Unsere Maßnahmen kommen in den Schulen also an. Manches geht aber nicht so schnell. Ich bin mir darüber im Klaren, dass ein Breitbandanschluss der Schulen für ein verlässliches Arbeiten insbesondere für den Hybridunterricht – wenn parallel ein Teil der Klasse, den Unterricht von zu Hause verfolgt – unverzichtbar ist. Die Breitbandversorgung wird schrittweise ausgebaut. Hier kommt es auch auf die Kapazitäten in den Kommunen und der Bauwirtschaft an. Leider kostet das nicht wenig Zeit – und Geld. Im Rahmen des Digitalpakts Schule wurde durch mehrere Zusatzvereinbarungen nachjustiert: Bund und Länder haben im letzten Jahr 550 Millionen Euro in die Verteilung von Computern, Laptops und Tablets insbesondere an Schülerinnen und Schüler investiert, die nicht von Haus aus mit Computern und Zugang zum Internet versorgt sind.
Wer keinen Laptop hat, kommt heute kaum mit. Was können die Schulen tun, um eine „verlorene Generation" von Schülern zu verhindern?
Die Lehrkräfte leisten viel, um schwächere Schülerinnen und Schüler zu stärken. Das gehört zu ihren Aufgaben. Es gibt in den Ländern ganz unterschiedliche personelle Möglichkeiten, aber es gibt in vielen Schulen auch Personal im Ganztag, Schulsozialarbeit und andere, die sich sehr intensiv um den Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern zu Hause kümmern. Das ist das Wichtigste. Die aktuelle Situation ist nicht nur eine besondere Herausforderung, sondern auch eine Chance, dass unsere Gesellschaft der Pandemie in einer großen solidarischen Anstrengung begegnet. Es ist notwendig, den Schülerinnen und Schülern ihre Perspektiven für ihre weitere schulische und berufliche Entwicklung aufzuzeigen. Sorge dafür tragen Schulen gemeinsam mit vielen anderen Akteuren wie der Berufsberatung der Agenturen für Arbeit, den Kammern und Arbeitgeberverbänden.
Wird „Abi 21" in Zukunft mal ein Manko sein? Mit abgesenkten Anforderungen?
Die in diesem Jahr erworbenen Abschlüsse werden denen früherer und späterer Jahrgänge gleichwertig sein und gegenseitig anerkannt werden. Darauf haben sich die 16 Bildungsministerinnen und Bildungsminister im Rahmen der letzten virtuellen KMK-Sitzung geeinigt. Um faire Rahmenbedingungen für die Abschlussprüfungen zu gewährleisten und die Schülerinnen und Schüler in ihrer Prüfungsvorbereitung zu unterstützen, stehen den Ländern eine Reihe von Maßnahmen zur Verfügung, die Hilfestellung geben, ohne das von der Kultusministerkonferenz definierte Anspruchsniveau abzusenken. Solche Maßnahmen können etwa sein: Verschiebung von Prüfungsterminen zur Gewinnung von mehr Lernzeit, soweit es die Ferientermine zulassen, oder die Reduzierung der Anzahl von Klassenarbeiten und Klausuren zur Gewinnung von mehr Lernzeit. Diejenigen, die in diesem Jahr ihren Abschluss machen, können auf jeden Fall stolz darauf sein, es unter diesen besonderen Bedingungen geschafft zu haben, und ich bin sicher, dass zukünftige Arbeitgeber das auch anerkennen.
Viele Schüler fühlen sich überfordert, viele sind enttäuscht und mutlos – wie könnte man sie besser motivieren?
Es ist verständlich, dass auch für viele Kinder und Jugendliche diese Situation sehr schwer ist, zumal es in diesem Alter emotional besonders anstrengend ist, auf den direkten Kontakt zu den Altersgefährten zu verzichten. Hier sind wir alle gefragt, ihnen zu zeigen, dass in dieser Situation persönliche Einschränkungen eine solidarische, vernünftige und sinnvolle Antwort auf die Pandemie sind. Das fordert uns alle heraus und ist zuerst eine Aufgabe von uns Erwachsenen.
Einige Ministerpräsidenten haben angekündigt, keinen einheitlichen Termin für eine Wiedereröffnung der Schulen zu akzeptieren. Ist das eine Niederlage für die KMK?
Die Kultusministerkonferenz ist sich einig, dass Präsenzunterricht insbesondere für die jüngeren Schülerinnen und Schüler sowie für die Abschlussklassen enorm wichtig ist. Deshalb wollen wir die Schulen unter Beachtung des Gesundheitsschutzes so bald wie möglich wieder öffnen. Dazu haben wir erfolgreich einen gemeinsamen Stufenplan verabschiedet, den wir bewusst nicht an Inzidenzen geknüpft haben. Einen einheitlichen Termin hat die KMK nie gefordert, natürlich muss das Infektionsgeschehen beachtet werden. Es ist aus meiner Sicht auch richtig, dass es mit Blick auf die Inzidenzen keinen Automatismus gibt, wann der Präsenzunterricht ausgesetzt oder wiederaufgenommen wird. Die Sommermonate haben uns gezeigt, dass Inzidenzen auch aufgrund eines punktuellen Ausbruchgeschehens in Schlachtbetrieben oder Pflegeheimen in die Höhe getrieben werden. Denn das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Bildung ist – und diese Meinung eint uns ebenfalls in der KMK – am besten im Präsenzunterricht umzusetzen.
Was beweist eigentlich den Vorteil des Bildungsföderalismus gegenüber einer einheitlichen Lösung – auch unabhängig von Corona?
Handeln vor Ort kann schneller und passgenauer sein. Das schließt ein abgestimmtes Vorgehen der Länder nicht aus. Der Föderalismus hat Deutschland gut getan. Wir haben im Bereich der Bildungspolitik unterschiedliche Voraussetzungen in den Ländern. Nehmen wir zum Beispiel den Ausbildungsmarkt. In gewissen Regionen sind große Wirtschaftsunternehmen ansässig, die ein stabiles Angebot an Ausbildungsplätzen vorhalten können, andere Regionen sind von kleineren und mittelständischen Unternehmen geprägt. Die Länder müssen auf solche Settings eingehen und entsprechende Bedingungen und Strukturen schaffen, um Jugendliche überall beim Anschluss in Ausbildung oder Studium zu unterstützen. Die Kultusministerkonferenz hat sich auf den Weg gemacht: Wichtige Schritte waren beispielsweise die gemeinsame Entwicklung von Bildungsstandards, der gemeinsame Abituraufgabenpool.
Ist Wettbewerb in der Schulpolitik ein gutes Prinzip? Zwischen Schulen? Zwischen Bundesländern?
Das föderale System in Deutschland ist historisch gewachsen, die gegenseitige Überprüfung ist explizit gewollt. Insofern scheint es mir nicht um Wettbewerb im eigentlichen Sinne zu gehen, sondern es geht darum, von anderen zu lernen. Die Länder verfolgen das gleiche Ziel: Bestmögliche Bildung für alle Schülerinnen und Schüler. Dies wird mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und angepasst an die jeweiligen Voraussetzungen vor Ort gestaltet und vorangetrieben.