Die Sorge um Mutationen zwingt zu schärferen Maßnahmen. Gleichzeitig wächst der Druck, Lockerungsszenarien zu entwickeln. Das Dilemma wird durch die Impfdebatten verschärft.
Bundesinnenminister Horst Seehofer hat einen väterlichen Rat an seinen 30 Jahre jüngeren Kollegen parat: „Jens, halte durch, bleib stark." Aufmunterung für Gesundheitsminister Jens Spahn vor der wöchentlichen Regierungsrunde. Am letzten Mittwoch im Januar ging es dabei um die Impfstoffbeschaffung, die vorne und hinten nicht klappt. Seit Zulassung des ersten Impfstoffs drei Tage vor Heiligabend erlebt der Bundesgesundheitsminister einen wahren Kritik-Tsunami. Der 40-jährige Westfale wird seit Wochen für so ziemlich jede Panne verantwortlich gemacht, die irgendwo auftritt, auch wenn Spahn dafür gar nicht zuständig ist. Die Umfragewerte des CDU-Sonnyboys haben bereits erheblich gelitten, aber Jens Spahn verfügt auch über ein sehr robustes Selbstbewusstsein. Das bewies er jüngst, als der „Impfgipfel" mit Bund, Ländern und Branchenvertretern von der Kanzlerin höchstpersönlich ausgerufen wurde. Die Ankündigung war kaum in den Agenturen, da meldete sich der Bundesgesundheitsminister bereits per Twitter zu Wort. Wohlmeinende sprachen von einem Dämpfer für die Erfolgsaussichten des Impfgipfels. Spahn bezog sich auf die ausreichende Lieferung der Präparate und sprach von „mindestens zehn harten Wochen" bis Ostern. Diese Bemerkung wurde aber in der Unions-Bundestagsfraktion ganz anders verstanden, nämlich in Anbetracht des „Impfgipfels" als eindeutige Umschreibung für „Symbolpolitik".
Werte für den Sonnyboy gesunken
„Was wollen denn Kanzlerin und Ministerpräsidenten denn da gipfeln? Wenn die Firmen nicht liefern, aus welchen Gründen auch immer, dann liefern die nicht", so ein hessischer CDU-Mann, der immer für einen kessen Spruch gut ist. Spahn und seine Fraktionskollegen im Bundestag sollten Recht behalten. In Sachen Impfstoffbeschaffung hat der Gipfel natürlich kaum etwas gebracht außer Appelle. Was nicht weiter verwundert, wenn selbst die zuständigen mächtigen EU-Kommissare in dieser Angelegenheit bislang nicht viel erreicht haben. Doch dafür könnte der Gipfel zumindest bei der Impfkampagne zum Umdenken angeregt haben. Was aber weniger an den Akteuren aus der Politik liegt, sondern einem einzigen Fakt zu verdanken ist. Der nun zugelassene Astrazeneca-Impfstoff wird in Deutschland nur für Menschen bis zu 64 Jahren empfohlen, obwohl die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) den Impfstoff ab 18 Jahren unbegrenzt nach oben zugelassen hat. Über die Wirksamkeit des Astra-zeneca-Impfstoffs bei über 65-Jährigen gab es zunächst verwirrende Meldungen, in denen von lediglich zehn Prozent die Rede war. Bei genauerem Hinsehen stellte sich aber heraus, dass der Anteil Älterer bei den Tests zu gering erschien, um eine verlässliche Aussage treffen zu können. Das führte die Ständige Impfkommission (Stiko) zu ihrer Empfehlung. Damit war der Impfstoff für die aktuelle Strategie kaum einsetzbar. Die sieht ein „Impfen von Oben nach Unten" vor, von Alt nach Jung.
Ein weiteres Problem sind die Lieferungen. Astrazeneca wird von der bestellten Menge vorerst nur die Hälfte, 40 Millionen Dosen, an die EU-Staaten liefern. Großbritannien hat laut Hersteller bereits drei Monate vor den Festland-Europäern seine Bestellung abgegeben. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, so ist das nun mal in der Wirtschaft. Auch für diese Panne kann im Übrigen der Bundesgesundheitsminister nichts. Die europäischen Staatschefs haben sich bereits im Oktober letzten Jahres auf eine Impfstoff-Sammelbestellung geeinigt, die dann auf die 27 Mitgliedsstaaten nach Bevölkerungsanteil verteilt werden sollte. Nur ohne Lieferung kann auch nichts verteilt werden.
Einen Lichtstreif am Pandemie-Himmel gab es trotz aller Impfstoff-Debatten Ende Januar: Die Sieben-Tage-Inzidenz lag bundesweit nach drei Monaten erstmalig wieder unter 100 pro 100.000 Einwohner. Das rief umgehend die Landeschefs auf den Plan, allen voran den Ministerpräsiden von Schleswig-Holstein: Daniel Günther (CDU) geriert sich nun als der Corona-Maßnahmen-Öffnungsprofi. Sein Stufenplan orientiert sich an den Inzidenzwerten von 100, 50 und 35 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen. Der Stufenplan soll die „Blaupause" für ganz Deutschland sein, mit den anderen Bundesländern bis zum 14. Februar abgestimmt werden und am nächsten Tag in Kraft treten. Bei über 100 Neuinfektionen auf 100.000 bleibt alles, wie es derzeit ist. Liegt der Wert nach dem 15. Februar unter 100, dürfen sich laut Stufenplan fünf Personen aus zwei Hausständen treffen. In den Kitas beginnt ein eingeschränkter Regelbetrieb. An den Schulen startet für die Klassenstufen 1 bis 6 der Wechselunterricht. Bleibt der Wert 21 Tage stabil unter 100, gibt es für Handel und Sport Erleichterungen. Friseure oder Außensportanlagen könnten dann (frühestens am 8. März) wieder ihren Betrieb aufnehmen. Wenn der Inzidenzwert nach weiteren drei Wochen unter 50 fällt (also frühestens am 29. März), wechseln die Kitas in den Regelbetrieb, Schüler bis zur 6. Klasse gehen endgültig in den Präsenzunterricht, ab Klasse 7 beginnt der Wechselunterricht, die Abschlussklassen gehen in den regelmäßigen Präsenzunterricht. Auch der Einzelhandel und die Gastronomie könnten wieder öffnen, und das laut Rechenmodell vier Tage vor Ostern. Erlaubt wäre zunächst die Bewirtung von 50 Prozent der zulässigen Sitzplätze, die Öffnungszeit wäre allerdings noch von 17 bis 22 Uhr beschränkt.Liegt dann der Inzidenzwert weitere 21 Tage lang stabil unter 50, könnten (frühestens ab dem 19. April) Hotels, Ferienwohnungen oder Campingplätze auch für touristische Zwecke ihren Betrieb wieder aufnehmen. Theater, Konzerthäuser, Kinos oder Fitnessstudios dürften mit Kapazitäts- und Nutzungsbegrenzung ebenfalls wieder öffnen. Sinkt der Inzidenzwert dann unter 35, würden laut Stufenplan die Schulen (Mitte Mai) wieder komplett in den Regelbetrieb wechseln. Bars und Kneipen würden wieder öffnen. Bei einer stabilen Entwicklung könnte dann Ende Mai die Sperrstunde für die Gastronomie entfallen. Auch der Breitensport, Hallen- und Spaßbäder oder Freizeitparks würden öffnen. Sportveranstaltungen dürften dann wieder mit begrenzter Zuschauerzahl stattfinden. Das alles, wenn der Inzidenzwert 21 Tage unter 35 liegt. Der Stufenplan des Christdemokraten klingt sehr detailreich, auch wenn einiges bei den Öffnungsperspektiven nicht ausdrücklich aufgenommen wurde, etwa Saunen oder Bordelle.
„Blaupause" soll abgestimmt werden
Eine Reaktion aus dem Kanzleramt auf den Stufenplan zur Wiedereröffnung des Alltagslebens war bis Redaktionsschluss nicht bekannt. Aber Kanzlerin Merkel wird vermutlich wenig angetan gewesen sein. Zeitgleich mit der internen Veröffentlichung des Plans standen gerade erst Verschärfungen von Maßnahmen zumindest für Flughäfen und an Grenzen zur Debatte. Hintergrund sind Sorgen um die Verbreitung von Mutationen, die als deutlich ansteckender gelten. Seit dem 30. Januar dürfen Flugzeuge aus einer Reihe von Ländern, in denen die Corona-Mutationen massiv aufgetreten sind, nicht mehr in Deutschland landen.
Unstrittig ist, dass nach 14 Wochen die Belastung für Familien mit Kindern mit Homeoffice und Homeschooling Grenzen erreicht hat. Das gilt ebenso für Teile der Wirtschaft und des Handels – von Kultur, Unterhaltung, Gastronomie, Touristik ganz zu schweigen. Auch das komplette Vereinsleben, vielerorts Basis gesellschaftlichen Lebens, liegt seit drei Monaten brach. Die Ungeduld steigt mit sinkenden Inzidenzraten, die Dauerdebatten ums Impfen nerven. Gleichzeitig zeigen Entwicklungen wie derzeit beispielsweise in Portugal, das lange glimpflich davon gekommen war, dass an Entwarnung derzeit nicht zu denken ist.