In der Netflix-Miniserie „Das Damengambit" spielt Anya Taylor-Joy ein junges Schachgenie – damit erobert die 24-Jährige die erste Riege der Traumfabrik.
Eine junge Frau sitzt vor einem Schachbrett. Mit ihren großen braunen Augen fixiert sie ihren Gegenspieler. Unerbittlich. Karminroter Erdbeermund. Porzellan-Teint. Rötlich schimmerndes Haar. Sie spricht kein Wort. Und zieht uns sofort in ihren Bann. Die junge Schauspielerin heißt Anya Taylor-Joy. In „Das Damengambit" spielt sie Elizabeth „Beth" Harmon, ein blutjunges Schachgenie mit kühlem Sex-Appeal und leicht soziopathischen Zügen. Im Laufe der siebenteiligen Net-flix-Serie schlägt dieses Wunderkind die zahlreichen männlichen Kontrahenten reihenweise und vernichtend. Schließlich kämpft sie sich sogar zur Weltmeisterin empor.
Noch nie wurde das Schachspielen so realitätsnah, so spannend, so dynamisch und ästhetisch verfilmt. In den USA und England hat die stilsicher inszenierte Miniserie einen wahren Schach-Boom ausgelöst. Schachspiel-Sets waren binnen kürzester Zeit ausverkauft, die Zahl der Anmeldungen in Schach-Clubs schnellte sprunghaft in die Höhe. Vor allem junge Frauen fühlten sich von Beths Odyssee aus einem tristen Waisenhaus zum gefeierten Schach-Superstar inspiriert. Und das nicht nur in Sachen Schachspiel, sondern auch dazu, das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Denn „Das Damengambit" zeigt vor allem die Emanzipation einer jungen Frau Ende der 1950er-Jahre und handelt davon, wie sich Beth mit Eigensinn und Willenskraft in einer männerdominierten Welt behauptet und selbst verwirklicht – trotz Medikamentenmissbrauchs, Alkoholsucht und emotionaler Isolation. „Eigentlich sind mir die Figuren, die ich spiele, ziemlich fremd", meint sie. „Aber bei Beth war das ganz anders. Mit ihr konnte ich mich auf Anhieb identifizieren. Ich weiß nämlich genau, wie man sich fühlt, wenn man plötzlich in ein fremdes Umfeld verpflanzt wird.
Das traumatische Erlebnis, auf das Anya Taylor-Joy anspielt, hatte sie mit sechs Jahren, als ihre Eltern mit der ganzen Familie aus der Heimat Argentinien ins graue, kalte London zogen. Trotz ihrer fünf älteren Geschwister fühlte sie sich einsam und verlassen. Sie sprach weiterhin nur Spanisch – und weigerte sich zwei Jahre lang, Englisch zu lernen, weil sie hoffte, ihre Eltern würden sie dann doch wieder nach Argentinien zurückschicken. Widerwillig lernte sie schließlich doch die Sprache. Sie ging in London zur Schule, nahm Ballettunterricht und begann, sich für Theater und Film zu interessieren. Mit 16 Jahren wurde sie vor dem Luxus-Kaufhaus Harrods in London von einem Model-Scout entdeckt. Bei einem Casting für die Kult-Serie „Downton Abbey" – für die sie allerdings nicht genommen wurde – fiel die eigenwillige Schönheit zum ersten Mal diversen Hollywood-Produzenten auf.
Ihr Schauspiel-Debüt gab sie 2015 in dem amerikanischen Horrorfilm „The Witch". Thematisch angesiedelt zwischen Arthur Millers „Hexenjagd" und „Blair Witch Project", landschaftlich mitten im kargen Nirgendwo im Neuengland des 17. Jahrhunderts, spielte sie eine Heranwachsende, die in ihrer puritanischen Familie als Hexe gebrandmarkt wird. Das gelang Anya Taylor-Joy so überzeugend, dass sie international als eine der besten Newcomer-Schauspielerinnen des Jahres 2015 gefeiert wurde. Nicht schlecht für jemanden, der nie eine Schauspielschule von innen gesehen hatte.
Durch „The Witch" wurde der Regisseur M. Night Shyamalan („The Sixth Sense") auf Anya Taylor-Joy aufmerksam. In dem Psychothriller „Split" (2016) wurde sie als Teenage-Girl Casey von einem Psychopathen mit multipler Persönlichkeitsspaltung gekidnappt. Shyamalan war von Anyas Performance dermaßen beeindruckt, dass er sie als Casey auch in der Fortsetzung „Glass" (2019) besetzte.
Zuvor war Anya Taylor-Joy in der Horror-Komödie „Vollblüter" (2017) als egozentrisch versnobte Lily zu bestaunen, in der sie, zusammen mit ihrer apathischen Freundin Amanda, den perfekten Mord an ihrem verhassten Stiefvater plante. Nachdem Lily ihn kaltblütig abgestochen hat, schmiert sie das Blut auf ihre vorher mit Schlafmittel betäubte Freundin. Amanda kommt dafür fälschlicherweise in eine Anstalt. Lily bleibt auf freiem Fuß und verabschiedet sich mit einem wunderschönen, teuflischen Augenaufschlag aus dem Film.
„Ich will mich nicht wiederholen"
Keine Frage: Anya Taylor-Joy hat einen Hang zu düster-dunkeln, mysteriösen Rollen. Dass sie sich dabei nicht als neuer Horror-Hot-Shot hat instrumentalisieren lassen, darauf legt sie großen Wert.
„Ich hatte von Anfang an immer einen Platz am Tisch der Regisseure und konnte so bei der Gestaltung des Films und meiner Rolle mitreden. Mir war zum Beispiel sofort klar, dass ich als Beth rote Haare haben musste", lacht sie. Natürlich ist es für mich auch sehr wichtig, die richtige Stimmung eines Films zu treffen." Gut so. Denn mit einem derart hypnotischen, glühend harten Blick wie dem von Anya Taylor-Joy wurde selten eine Kameralinse beglückt.
In einer neuen Jane-Austen-Verfilmung von „Emma" (2020), spielt sie die Titelrolle mit viel Verve und Charisma. Die Dreharbeiten dazu waren für sie eine große Herausforderung. „Ich habe sogar eine Panikattacke bekommen, weil ich mich total überfordert fühlte. Wie sollte ich auch – hochmütig und dünkelhaft – ein Zimmer betreten und alle Anwesenden glauben machen, dass ich das Schönste und Beste wäre, was ihnen je begegnet ist? Ich, die Anya, die sich
jeden Morgen beim Zähneputzen im Spielgel sah?" Zweifel, die wir nicht ganz nachvollziehen können. Denn gerade in diesem Film sagen Anya Taylor-Joys Blicke oft so viel mehr als Worte. Die Sphinx-Eigenschaften als Markenzeichen.
Schauspielerin wird man sicher nicht, um nicht aufzufallen. Darsteller stehen gern im Rampenlicht, wollen Wirkung erzielen, beeindrucken. Das erfordert Kraft und Energie. Dass man bei dieser künstlerischen Berufung ein gesundes Selbstbewusstsein aufrechterhalten und gleichzeitig versuchen muss, seine Ängste unter Kontrolle zu halten, hat Anya Taylor-Joy mittlerweile gelernt. Dass sie bei der Wahl ihrer Rollen auch erhebliche Wagnisse eingegangen ist, entspricht ihrem Naturell. „Ich habe keine Angst vor Veränderungen. Weder im Privaten noch in beruflicher Hinsicht. Und ich bin sehr gerne Schauspielerin! Und ich will mich auf gar keinen Fall wiederholen."
Und sie hält Wort. Demnächst werden wir sie in etlichen sehr unterschiedlichen Projekten bestaunen können, darunter die Wikinger-Saga „The Northman" sowie ein Prequel-Spin-off von „Mad Max: Fury Road" als junge Furiosa (die Rolle, die ursprünglich Charlize Theron spielte). Damit Anya Taylor-Joy bei ihrem Trip in Richtung Ruhm und Reichtum nicht die Bodenhaftung verliert, hat sie sich selbst ein Mantra auferlegt: „Künftig will ich meine beste Freundin und mein eigener Mentor sein!"