Deutschland darf seine Erfolge im Kampf gegen Corona nicht aufs Spiel setzen
Corona ist seit Langem die größte Geduldsprobe, die Deutschland, Europa und die Welt durchmachen müssen. Hierzulande leiden Schüler und Eltern immer stärker unter dem Lockdown. Die Betreiber von Restaurants, Friseurläden, Einzelhandelsgeschäften sowie Kulturschaffende haben Existenzängste. Wer von Kurzarbeit betroffen ist oder seinen Job verloren hat, muss hart rechnen. Insofern ist der Ruf nur zu verständlich: Wann hört der Spuk endlich auf? Wann gibt es einen Fahrplan, der zumindest schrittweise Lockerungen vorsieht?
Diese Forderungen sind umso nachvollziehbarer, als Deutschland beeindruckende Erfolge im Kampf gegen das Virus errungen hat. Durch den Lockdown ist die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche – die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz –
auf rund 70 gesunken. Ende 2020, als die Corona-Kurve noch exponentiell anstieg, waren es knapp 200. Einzelne Landkreise haben die Sieben-Tage-Inzidenz sogar auf Werte zwischen 20 und 30 gedrückt. Das liegt unter der magischen Schwelle von 50, die die deutsche Politik als Zielmarke für mögliche punktuelle Lockerungen angibt.
Kaum ein Land in Europa weist bessere Zahlen auf. Es sind die Früchte von Disziplin und Leidensfähigkeit. Möglich war dies nur, weil große Teile der Bevölkerung mitgemacht haben. So verführerisch der Gedanke an Lockerungen ist: Es wäre der falsche Weg – zumindest jetzt. Viele Länder von Spanien bis Israel, die nach dem ersten Lockdown im Frühjahr die harten Maßnahmen zurückgefahren haben, haben dies später bereut. Die Corona-Kurven schossen steil nach oben. Die Gesundheitsämter meldeten „Land unter", die Nachverfolgung der Kontakte von Infizierten war nicht mehr möglich.
Doch auch jetzt gibt es wieder Versuche, das Verbots-Regime aufzuweichen. So hat sich Österreich seit Montag auf ein riskantes Spiel eingelassen: Geschäfte, Dienstleistungsbetriebe und Schulen sind wieder offen, wenn auch zum Teil mit verschärfter Masken- und Testpflicht. Die Erleichterungen kommen, obwohl die Alpenrepublik mit rund 108 eine wesentlich höhere Sieben-Tage-Inzidenz aufweist als Deutschland.
Es ist zweifelhaft, ob diese Rechnung aufgeht. Zum einen, weil mehr Kontakte die Ausbreitung des Virus‘ begünstigen. Zum anderen, weil aggressive Mutationen wie der britische oder südafrikanische Typ das Ansteckungstempo erhöhen. Wir müssen noch ein Stück weiter auf Sicht fahren. Es ist besser, den Lockdown ein bisschen länger denn nötig durchzuhalten, als die Barrieren zu früh abzuräumen. Dann waren möglicherweise alle Anstrengungen umsonst.
Deshalb gehen Vorstöße, einen Zeitplan für mögliche Lockerungen aufzustellen, an der Realität vorbei. Nach dem Motto: Landkreise mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von – sagen wir – bis zu 40 oder 50 können Läden, Restaurants und Schulen wieder öffnen. Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow ist im Sommer 2020 diesem Irrtum aufgesessen. Sein Argument: Viele Regionen in seinem Bundesland seien Corona-frei, daher fühle er sich dort nicht an Lockdown-Maßnahmen gebunden. Doch Menschen sind innerhalb von Deutschland unterwegs – und das Virus reist mit. Mittlerweile hat Ramelow seine naive Einschätzung von damals eingesehen und sich dafür entschuldigt.
Man muss nicht unbedingt die Anti-Corona-Keule eines autokratischen Landes wie China anwenden. Der pazifische Inselstaat Neuseeland hat vorgemacht, wie die Pandemie in Schach gehalten werden kann. Kernpunkte: Siebenwöchiger knallharter Lockdown, Ausgangssperren, strenge Tests, eine flächendeckende Kontaktverfolgung. Zudem musste jeder, der einreisen wollte, zwei Wochen in Selbstisolation. Es gab seit Beginn der Pandemie insgesamt nur rund 2.300 Ansteckungen und 25 Tote. Heute verzeichnet das fünf Millionen Einwohner zählende Land keine Neuinfektionen mehr. Auf Deutschland übersetzt heißt dies: Je mehr wir uns einer Sieben-Tage-Inzidenz von null nähern, desto eher können wir über verantwortungsvolle Lockerungen reden.
Noch etwas kann man von Neuseeland lernen. Premierministerin Jacinda Ardern machte es zur Regel, ihre Landsleute jeden Tag über die geplanten Schritte zu informieren. Klar, verständlich und mit Empathie. Sie motivierte und inspirierte. Diese Art der politischen Kommunikation täte auch in Deutschland gut.