Die massive Krise trifft die Wirtschaft zu einer Zeit der ohnehin großen Umbrüche. Kurzfristig steht die Krisenbewältigung im Vordergrund. Gleichzeitig geht es um Richtungsentscheidungen für die Zukunft.
Krisen, sagt eine viel zitierte Lebensweisheit, seien immer auch eine Chance. Auch wenn es erst einmal darum ging und geht, die Schäden in Grenzen zu halten, dafür zu sorgen, dass die zentralen Strukturen einigermaßen unbeschadet bleiben, ist spätestens vom ersten Tag des ersten Shutdowns an die Diskussion über die Lehren und Konsequenzen aus den neuen Erfahrungen entbrannt.
Die hochspezialisierte, arbeitsteilig vernetzte Just-in-time-Produktion rund um den Globus hatte von einem auf den anderen Tag ihre Anfälligkeiten offenbart. Wenn Lieferketten ausfallen, werden die Abhängigkeiten überdeutlich. Und es wird klar, wie viele Fähigkeiten im eigenen Land oder zumindest innerhalb Europas nicht oder nur noch rudimentär vorhanden sind. Da sind medizinische Schutzausrüstungen und Masken nur das augenfälligste Beispiel aus dem Anfang der Pandemie.
Der starke Staat als Neuentdeckung
Die Krise hat das gesamte Wirtschaftssystem vor Fragen gestellt und aus Sicht nicht weniger grundsätzlich infrage gestellt. Antworten fallen naturgemäß je nach politischem Blickwinkel unterschiedlich aus. Das gilt aber auch innerhalb der Wirtschaft selbst und erst recht für die vielfältigen Thinktanks, die ihrerseits in der Krise zusätzliche Argumente für ihre jeweils bevorzugten Visionen oder Szenarien ausmachen.
In der politischen Debatte sehen sich Befürworter einer stärkeren Rolle des Staates bestätigt. „Nur ein starker und sozialer Staat kann die Herausforderungen bewältigen", betont SPD-Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich. Für Die Linke Co-Vorsitzende Katja Kipping stand bereits früh fest, „dass die Ideologie, wonach der Markt alles richtet und Privatisierungen eine feine Sache sind, gescheitert ist". Nach Jahren unablässigen Kampfes gegen einen angeprangerten „neoliberalen Mainstream" sehen sich Linke und linke Sozialdemokraten bestätigt. Die Schwächen in der Krise hätten sich dort gezeigt, wo sich der Staat zurückgezogen hat, wo Strukturen auch zur Einhaltung der Schuldenbremse zurückgefahren oder nicht weiterentwickelt wurden.
Die SPD hat auf ihrer Klausurtagung daraus ihren „Plan für die 20er-Jahre" samt Zukunftsvisionen für den Wahlkampf formuliert. Katja Kipping hat mit dem Co-Vorsitzenden Bernd Riexinger den Entwurf für ein Wahlprogramm der Linken vorgelegt (das allerdings erst von einem Parteitag Mitte des Jahres beschlossen werden soll), das vor allem die wachsende soziale Kluft in den Blick nimmt, die durch die Krise verschärft wurde. SPD und Linke schreiben damit ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Grundsätze fort, sehen sie sich doch durch die Entwicklung bestätigt. Neu ist die Deutlichkeit, in der beide Parteien das Klimathema hervorheben, die Linke unter dem Aspekt der „Klimagerechtigkeit", die SPD hat zumindest auf ihrer Klausurtagung „Klimaschutz an die erste Stelle gesetzt", wie Parteichef Norbert Walter-Borjans betonte. Dahinter mag neben inhaltlicher Überzeugung auch wahltaktisches Kalkül stehen. Das Klimathema, auch unter wirtschaftspolitischen Aspekten, bleibt allerdings eine Domäne der Grünen. Die standen zwar in dem bislang knapp zwölf Krisenmonaten nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, büßten allerdings auch kaum von ihrer Rolle als zweitstärkste politische Kraft ein. Auch die Grünen sehen sich durch die Krisenerfahrung in ihren grundlegenden wirtschaftspolitischen Ansichten eher bestärkt. Im Gegensatz zur FDP, die mit ihren bisherigen wirtschaftspolitischen Ansätzen in der Krise wenig Grundlegendes beizutragen hatte. Die Union setzt mit Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) auf den Pragmatismus, den man von ihr erwarten durfte: In der Krise dafür sorgen, dass keine zentrale Strukturen zerbröseln, um dann gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Allenfalls die Diskussion um die Schuldenbremse deutet zumindest eine neue Nachdenklichkeit an.
Neustart oder Wachablösung
Der Wahlkampf wird folglich wohl kaum von einer wirtschaftspolitischen Systemdebatte geprägt sein, die im Übrigen auch ziemlich an der derzeitigen Stimmungslage nach vier Monaten Lockdown vorbeigehen würde. Die Debatte wird naturgemäß von der aktuellen und konkreten Krisenbewältigung dominiert sein. Die aber hängt unmittelbar mit grundlegenden Richtungsentscheidungen zusammen, die zwar schon zuvor auf der Agenda standen, jetzt aber durch die Krise als Treiber des Wandels massiv befördert werden.
Das „Zukunftsinstitut", einer der führenden Thinktanks für Trend- und Zukunftsforschung, macht eine Reihe von „Megatrends nach Corona" aus. Eines der Szenarien besagt, dass Corona „keinen Neustart auslöst, sondern eine Wachablösung". In einem Kommentar sprechen Harry Gatterer und Stefan Tewes von einer Weggabelung: „Ein Teil der Wirtschaft will schnell wieder Normalität und business as usual. Ein anderer Teil kann und will nicht mehr zurück und drängt stattdessen nach vorne."
Dass die Industrie in einem gewaltigen Transformationsprozess steht und Digitalisierung Veränderungen in einem ungeahnten Tempo vorantreibt, sind die eher technologischen Aspekte. Dazu kommen nach Analyse des Instituts Megatrends, die in der Studie „Wirtschaft nach Corona" herausgearbeitet wurden. Beispiele dafür sind etwa eine neue Wissenskultur, vorangetrieben durch die Digitalisierung, die den Umgang mit Information verändert. Dass die Krise den Megatrend „New Work" beschleunigt hat, steht außer Frage. Allerdings stehen wir alle am Anfang einer neuen Sinnfrage, die sich aus der Symbiose von Leben und Arbeiten ergibt. Dass sich aus einer sich verändernden Arbeitswelt auch ganz neue Fragestellungen zur Urbanisierung und Mobilität ergeben, ist ebenfalls ersichtlich. Zudem hat die Krise die Aufmerksamkeit auf zwei weitere Bereiche geschärft: Gesundheit und Alter.
Beides hat in der Pandemie eine neue Dimension erfahren. War die „Silver Society" bislang eine Beschreibung für neue Selbstentfaltung im (länger gesunden) Alter, ist sie in der Pandemie zur Risikogruppe geworden. Einen ähnlichen Bruch hat das Verständnis der Selbstoptimierung erleben müssen. Aspekte, die neben den zunächst offensichtlichen Herausforderungen der Krisenbewältigung eine mitentscheidende Rolle spielen bei der Entscheidung an der beschriebenen Weggabelung.