Körperkontakt ist lebensnotwendig, durch die Corona-Pandemie aber leiden viele Menschen unter Berührungsmangel. Was geschieht bei Berührungen mit uns, wieso kann es problematisch werden, wenn sie fehlt – und was hilft durch die kontaktarme Zeit?
Eine Umarmung hier, ein Küsschen zur Begrüßung da – vor der Corona-Pandemie war das der Alltag der meisten Menschen. Und das nicht ohne Grund, denn Menschen sind auf Berührungen angewiesen. Durch die Pandemie aber und die damit verbundenen Einschränkungen, mangelt es vielen Menschen an Berührungen. Insbesondere wer alleine lebt, dem fehlen während der Pandemie diese ganz alltäglichen Formen des Körperkontakts mit anderen. Woher kommt es, dass der Mensch Berührung braucht, was geschieht dabei in unserem Körper, und was kann passieren, wenn sie fehlt?
Der Psychologe und Haptikforscher Martin Grunwald glaubt, dass Berührungen kein nettes Extra sind, sondern ein Lebensmittel und für den Menschen ebenso bedeutend wie etwa Essen und Trinken. Grunwald leitet das Haptik-Forschungslabor der Universität Leipzig. 2018 hat er das Buch „Homo hapticus: Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können" veröffentlicht, das zum Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt wurde. Darin schreibt er: „Die direkte Kopplung biologischer Wachstumsprozesse an die physische Reizung des Körpers folgt dem Naturgesetz, dass die Entwicklung von Leben nur dann biologisch sinnvoll ist, wenn artgleiche Organismen in direkter Nähe vorhanden sind, denn keinem Säugetier würde es unter natürlichen Bedingungen gelingen, ohne direkten Kontakt zu Artgenossen – insbesondere der Mutter – lebensfähig zu bleiben und sich zu entwickeln." Berührung also ist lebenswichtig für Säugetiere.
Der US-amerikanische Psychologe und Verhaltensforscher Harry Frederick Harlow hat Mitte der 90er-Jahre verschiedene Experimente mit jungen Rhesusaffen durchgeführt. Internationale Bekanntheit erlangte er, als er ab 1957 Rhesusaffen-Babys dazu benutzte, um an ihnen die Grundlagen der Mutter-Kind-Bindung zu erforschen. In Experimenten setzte Harlow junge Rhesusäffchen ohne ihre Mutter in einen Käfig. Dort hatten sie die Wahl zwischen zwei Attrappen: einer aus Draht nachgebildeten, Milch spendenden „Ersatzmutter" und einer gleich großen, mit Stoff bespannten „Ersatzmutter", die aber keine Milch spendet. Die Äffchen hielten sich bei der Milchspenderin stets nur zur Nahrungsaufnahme auf, kuschelten sich aber ansonsten auf die stoffbespannte Attrappe. Damals waren diese Ergebnisse eine absolute Neuigkeit für die Psychologie und Kinderpsychologie, denn insbesondere männlichem Nachwuchs gegenüber hielt man sich mit Umarmungen und intensivem Körperkontakt häufig zurück. In anderen Experimenten von Harlow wurden junge Äffchen in unterschiedlicher sozialer Umgebung aufgezogen. So wurden einige Tiere völlig isoliert, andere nur mit ihrer Mutter, und wieder andere mit Müttern und gleichaltrigen Spielgefährten groß gezogen. Dabei zeigte sich, dass Äffchen, die ohne Spielgefährten heranwuchsen, später oft ängstlicher wirkten als ihre Artgenossen, die mit Gleichaltrigen herangewachsen waren. Tiere, die völlig isoliert aufgezogen wurden, waren später derart verhaltensgestört, dass sie oft zur Aufzucht eigener Jungen nicht mehr fähig waren. Harlow wies auf diese Weise nach, dass soziale Bindungen für die emotionale Entwicklung der Primaten extrem wichtig sind.
Nähe-Entzug schädigt bei Kindern die körperliche und psychische Gesundheit
Ein grausames Experiment an Menschenkindern ist von Friedrich II. (1194 – 1250) überliefert. Dieser wollte Versuche an Waisenkindern durchführen, um die Sprachentwicklung zu untersuchen. Seine Idee war es, die ursprüngliche Sprache der Menschheit herauszufinden. Deshalb ließ er einige neugeborene Kinder ihren Müttern wegnehmen und an Pflegerinnen und Ammen übergeben. Sie sollten den Kindern Milch geben, sie baden und waschen, aber keinesfalls mit ihnen kuscheln und zu ihnen sprechen. Dadurch wollte Friedrich II. herausfinden, ob die Kinder nach ihrem Heranwachsen die hebräische Sprache sprächen, die älteste, die griechische, die lateinische, die arabische oder aber die Sprache ihrer Eltern. Das konnte er letztlich aber nicht ermitteln, da alle Kinder starben. In einer Überlieferung des Schriftstellers Eberhard Horst aus dem Jahr 1975 heißt es dazu: „Denn sie können ohne das Patschen und das fröhliche Grimassenschneiden und die Liebkosungen ihrer Ammen und Ernährerinnen nicht leben." Die Journalistin Virginia Hughes schreibt in ihrem Artikel „The Orphanage Problem" für „National Geographic", dass auch in aktuelleren Fällen und Studien erhöhte Mortalitätsraten in Waisenhäusern damit zusammenhängen, dass Nähe durch Bezugspersonen fehle.
Auch wenn Kinder den Nähe-Entzug überleben, nimmt ihre körperliche und psychische Gesundheit Schaden. Martin Grunwald und seine Kollegen vermuten, dass zu wenig Nähe als Säugling und Kleinkind zu einer Störung des Körperschemas führt. Das Körperschema ist die Vorstellung vom eigenen Körper hinsichtlich seiner räumlichen Ausdehnung und Lage im Raum. Martin Grunwald erklärt es in seinem Buch so: „Eine Leistung des Körperschemas ist die sichere Beurteilung dessen, was an unserem Körper hinten und vorn, oben und unten ist. Auch mit geschlossenen Augen haben wir ein sicheres Empfinden für die räumlichen Aspekte unseres Körpers. Verallgemeinert kann man die Leistung des Körperschemas als Bewusstsein über das eigene körperliche Selbst oder als eine neuronale Abbildung unserer dreidimensionalen Daseinsart verstehen." Ist dieses Körperschema gestört, kann das im Extremfall zu Erkrankungen wie Adipositas oder Anorexie führen. Die Patienten haben kein Gefühl für ihre eigenen Körpergrenzen entwickeln können. Martin Grunwald hat deshalb einen „Druckanzug" entwickelt. Dabei handelt es sich um eine Art maßgeschneiderten Neoprenanzug, den Anorexie-Patienten regelmäßig ergänzend zu ihrer Therapie tragen. Die Idee: Durch den Druck des Anzugs, der als künstliche Körpergrenze dient, können die Patienten korrigierende Erfahrungen zu ihrem eigenen Körperschema machen. Studien stehen noch aus, an der Berliner Charité wird der Anzug allerdings bereits erfolgreich eingesetzt.
Forscher des University Medical Centers in Nashville konnten in einer Studie von 2017 nochmals den positiven Effekt der Berührung bei Babys belegen. Es zeigte sich, dass sich viel Hautkontakt positiv auf die Hirnentwicklung von Neugeborenen auswirkte. Außerdem war liebevolle Berührung ein wichtiger Baustein, um eine sichere Bindung zwischen Kind und Eltern aufzubauen. Aber auch auf Erwachsene haben Berührungen einen guten Einfluss: Herzfrequenz und Blutdruck werden gesenkt und die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol gebremst. Das Hormon beeinflusst den menschlichen Stoffwechsel, sodass bei Belastung energiereiche Verbindungen verfügbar werden. Es wirkt abschwächend auf das Immunsystem und beeinflusst den Blutdruck. Dafür wird der Körper mit den Hormonen Oxytocin und Serotonin geflutet. Oxytocin ist auch als Kuschelhormon, Orgasmus- oder Treuehormon bekannt. Es spielt eine wichtige Rolle bei der Geburt, beim Stillen und der Mutter-Kind-Bindung. Es steht allgemein in Zusammenhang mit Liebe, Vertrauen und einem Gefühl der Ruhe. Es wird nach angenehmen Körperkontakten wie Umarmungen oder Massagen ausgeschüttet. Der Neurotransmitter Serotonin ist vor allem als Glückshormon bekannt. Dabei spielt Serotonin eine Rolle bei der Blutgerinnung, im Herz-Kreislauf- und Magen-Darm-System. In unserem Zentralnervensystem beeinflusst es neben der Stimmung den Schlaf-Wach-Rhythmus, den Appetit, das Schmerzerleben sowie das Sexualverhalten.
Tiffany Field vom Touch Research Institute der University of Miami hat in einer Übersichtsstudie zudem deutlich gemacht, dass länger andauernde Berührung wie zum Beispiel eine Massage oder Kuscheln die Immunfunktionen verbessert, die Muskulatur entspannt und depressive Verstimmungen abschwächt.
Daneben hat Berührung vor allem zwischenmenschliche Funktionen, etwa eine emotionale und kommunikative Funktion bei starken Gefühlen. So reagieren wir zum Beispiel auf einer Beerdigung oder nach der Geburt eines Kindes instinktiv mit einer Umarmung, um Mitgefühl oder Mitfreude zu transportieren. In einer Studie fanden Wissenschaftler der DePauw University in Indiana heraus, dass Menschen in der Lage sind, acht unterschiedliche Gefühle allein durch Berührung zu vermitteln.
In einer Yougov-Studie von 2014 – also bereits Jahre vor der Corona-Pandemie – gaben 47 Prozent der Befragten an, dass in Deutschland zu wenig umarmt wird. Jeder Dritte wünschte sich, öfter in den Arm genommen zu werden. Die Corona-Pandemie hat den Berührungsmangel für viele Menschen deutlich verstärkt. Wie sehr jemand leidet, hängt aber nicht nur vom Ausmaß der Zuwendung ab, sondern auch von dem individuellen Bedürfnis nach Nähe, das unter anderem auf frühkindliche Erfahrungen und Genetik zurückgeht. Während der Mensch eine Zeit lang ganz gut ohne körperliche Zuwendung auskommen kann, kann es – insbesondere bei körperbedürftigen Menschen –
über längere Strecken zu Problemen kommen. Dem Deutschlandfunk sagte Grunwald, die aktuelle Mangelsituation könne klinisch relevante Störungen hervorrufen. Abhilfe könne die Interaktion mit Haustieren schaffen, die sich in der Corona-Krise zunehmender Beliebtheit erfreuen. In Deutschland lebt in jedem zweiten Haushalt ein Haustier. Grunwald führt das auch darauf zurück, dass sich das Säugetier Mensch am Kontakt mit anderen Säugetieren erfreue. Der Psychologe selbst hilft sich derzeit mit kreativen Lösungen. So hüllt er sich etwa bei Treffen mit seinen Kindern in ein Bettlaken. Auch im Netz kursieren Videos von Kuschel-Vorhängen, Umarmungs-Handschuhen und Ganzkörper-Anzügen aus Plastik, um die eigene Mutter oder Oma zumindest mit geringerem Risiko umarmen zu können. Dann seien Umarmungen und Drücker mit leichten Einschränkungen kein Problem. Wichtig ist Grunwald zufolge, sich immer wieder bewusst zu machen, dass diese Situation keine zehn Jahre mehr andauere. Stattdessen solle man sich in der Mangelsituation auf die Zukunft fokussieren, die auch wieder körperinteraktiver sein wird.