Die Zukunft der Innenstädte steht schon geraume Zeit auf der Agenda. Corona verstärkt den Druck zur Veränderung. Der Grünen-Landesvorsitzende Markus Tressel sieht die Zukunft in einem Mix aus Fachhhandel und Produktion, Aufenthaltsqualität und einem Verkehrskonzept für ein autofreies Zentrum.
Herr Tressel, vor einem Jahr waren die Innenstädte komplett ausgestorben, jetzt sind sie auch nur vergleichsweise spärlich bevölkert. Wie wird es aussehen, wenn die Einschränkungen wieder gelockert werden?
Corona wird extrem viel verändern, umso mehr, je länger die Pandemie dauert. Was ich jetzt nach einem Jahr sehe: Es werden sich viele Dinge, auch das Verbraucherverhalten, verfestigen. Was sich im Onlinehandel entwickelt hat, wird sich schwer wieder in den stationären Handel zurückverwandeln. Die Frage ist: Wie geht man damit um? Ich glaube, dass Corona Entwicklungen vorweggenommen hat, die an vielen Stellen ohnehin gekommen wäre. Die Frage, welche Rolle die Innenstädte in der Zukunft haben sollen, haben wir schon vor Jahren diskutiert. Schon vor zehn Jahren war absehbar, dass das klassische Innenstadtgeschäft zurückgehen wird durch Amazon und Co. Es geht um die Frage, wie ich das Fachgeschäft in der Stadt halten kann und was passiert, wenn sich bestimmte Verhaltensmuster der Verbraucher nicht mehr zurückentwickeln.
Kann die Idee, die Theke des stationären Handels sozusagen ins Internet zu verlängern, ein Weg sein? Oder ist das nur eine Übergangsphase?
Das wird Realität werden. Der stationäre Handel wird sich hybrider aufstellen müssen, davon bin ich fest überzeugt, einfach, weil der Verbraucher bestimmte Dinge zu schätzen gelernt hat. Wir erleben in Städten sogenannte Showrooms, wo sich die Leute Produkte ansehen können, die sie dann im Internet bestellen. Das wird stärker werden. Man muss sich aber auch die Entwicklung ansehen: Durch die hohen Mieten im Innenstadtbereich hat der spezialisierte Handel schon lange ein Aussterben erlebt, und die Filialisten, die die Mieten zahlen konnten, haben die Innenstädte auch ein Stück weit auswechselbar gemacht. Ich war immer ein Verfechter der Idee, dass eine Innenstadt unverwechselbar sein muss. Wir sehen ja, dass dort, wo die Innenstädte etwas Unverwechselbares haben, der spezialisierte Einzelhandel eher überlebt als dort, wo reine Filialisten tätig sind.
Der Trend war aber allen Diskussionen zum Trotz in der Vergangenheit unaufhaltsam.
Es könnte jetzt aber auch eine Folge von Corona sein, dass es einen Trend zur stärkeren Individualisierung gibt. Ich glaube, dass es Massenabfertigungen deutlich schwerer haben werden. Das gilt übrigens auch für den Bereich Tourismus und Urlaub. Ich glaube, dass Innenstädte wieder viel mehr soziale Orte werden müssen. Auch der Handel muss sich als sozialer Ort entwickeln, wo gearbeitet, gelebt und auch wieder produziert wird. Da wird vieles auch durch die Digitalisierung möglich, etwa Produktion in kleinem Maßstab mit 3-D-Drucker. Was wir auch sehen sind Geschäfte, die ein kleines Café dabeihaben. Wenn die Innenstadt wieder eine neue Funktion findet, kann auch der Handel profitieren. Ich glaube, dass große Angebote, auswechselbare Konfektionsware, stärker ins Internet wandert. Das spezialisierte und besondere Angebot wird vom direkten Kontakt leben.
Wir haben bisher von „den Städten" geredet. Wie sieht es aus mit Unterschieden zwischen Oberzentren wie Saarbrücken und ländlichen Regionen?
In kleineren Kommunen reden wir schon länger über die Entwicklung von Ortskernen. Das hängt zusammen mit der demografischen Entwicklung und der Frage: Wie werden wir ältere Menschen versorgen, wie werden sie leben wollen? Es gibt ja auch eine Entwicklung, die wir beispielsweise in Saarlouis sehen, dass ältere Menschen wieder ins Zentrum wollen, wo sie etwa fußläufig zum Arzt gehen können. Da bekommen Innenstädte und Ortskerne eine neue Bedeutung. Der zweite Aspekt sind ökologische Fragen, zum Beispiel die Frage nach dem Flächenverbrauch. Wollen wir in einem schrumpfenden Land immer weiter Neubaugebiete im Außenbereich ausweisen, oder wollen wir Lücken in der Ortslage schließen?
Es gibt ein schönes Beispiel: Summer of Pioneers in Wittenberge zwischen Berlin und Hamburg. Die Stadt hatte in Folge der Wende extrem viele Einwohner verloren. Die haben jetzt gesagt: Wir locken Digitalarbeiter aus den Metropolen in die Stadt, haben Arbeitsflächen, Co-Working-Spaces, zur Verfügung gestellt, außerdem die Möglichkeit, gemeinsam dort zu leben und zu arbeiten. Die haben dann auch Leerstand bespielt, haben in einem ehemaligen Kaufhaus ein Theater und Versammlungsräume eingerichtet. Inzwischen steigen die Zuzugszahlen. Dort, wo heute Leerstand in Kommunen ist, kann man eigentlich umgekehrt auch von Raumwohlstand sprechen. Den kann man gewinnbringend nutzen. Das muss eine Aufgabe für Bürgermeister, Gemeinderäte, also eine Aufgabe vor Ort sein.
Das Beispiel lässt sich aber nicht beliebig oft wiederholen.
Es zeigt aber: Man muss die Scheuklappen ablegen, muss sich vor Ort fragen: Was will ich eigentlich? Das fängt schon mit der Frage an, was in einem leer stehenden kleinen Laden ansiedeln kann. Und man muss ein Management aufsetzen, das Entwicklungen begünstigt.
Ein anderes Stichwort: autofreie Innenstadt. Werden die erwartbaren Umbrüche solche Ideen beschleunigen?
Es gab ja früher das Mantra: Eine gute Innenstadt ist eine, wo jeder mit dem Auto vor die Ladentür fahren kann. Das hat sich geändert. Es geht um Aufenthaltsqualität, nur damit kriegen wir den Turn zu lebenswerten Innenstädten hin. Was definiere ich eigentlich als „gute Innenstadt"? Nur weil viele Geschäfte dort sind, ist es nicht automatisch lebenswert. Es geht also um Aufenthaltsqualität und Erreichbarkeit. Und Erreichbarkeit kann man heute auch anders organisieren. Ein gut gemachter Nahverkehr ist im Übrigen auch stressfreier, wenn sie einen guten Takt haben, keinen Parkplatz suchen und sich über enge Parklücken ärgern müssen. Ich habe immer gesagt: Man müsste die Leute preiswert oder am besten kostenlos von den Rändern in die Innenstädte shutteln. Autofreie Innenstadt ist gut für die Aufenthaltsqualität und notwendig fürs Klima. Dafür brauche ich aber eben ein gutes Angebot im ÖPNV. Ich bin überzeugt, dass die Innenstädte erfolgreich sein werden, wo die Menschen sagen: Ich habe eine hohe Aufenthaltsqualität, ich habe ein gutes Angebot, und ich habe ein hohes Maß an Sicherheit, auch an Verkehrssicherheit.
Das könnte im Grunde fast jeder unterschreiben. Warum wird es dann nicht konsequent umgesetzt?
Das ist auch eine Mentalitätsfrage. Wir erleben aber gerade, dass sich die Mentalität massiv ändert, dass junge Leute nicht mehr so oft einen Führerschein machen. Da wird das Smartphone wichtiger, sozusagen als Pass für eigene Mobilität. Dafür muss man dann aber auch Angebote schaffen, auch im ländlichen Raum. Da ist das Saarland nicht besonders progressiv. Wir reden dabei nicht über den großen Bus, sondern beispielsweise über Carsharing, auch das E-Bike. Elektromobilität hat ja mehr Facetten als das E-Auto. Ich will nicht jeden aufs Fahrrad zwingen, das wird auch nicht gehen. Es geht um intelligente Kombinationen, zu der auch Shuttle-Systeme gehören. Ich glaube im Übrigen, dass große Städte in Zukunft polyzentrisch ausgerichtet sein werden, das heißt, dass es nicht nur die eine Innenstadt geben wird. Und es wird andere Formen geben für den lokalen Handel, beispielsweise Markthallen für den direkten Lebensmittelbedarf. Es gehört also beides zusammen: Mobilität und Angebot.
Alles gleichzeitig machen wird für Kommunen schwierig. Wo also anfangen? Zuerst ein Verkehrskonzept?
Zuerst einmal brauchen Kommunen überhaupt ein Konzept. Man muss sich also zusammensetzen. Das passiert ja auch. Die Krise hat viele Probleme wie unter einem Brennglas gezeigt. Sie kann aber auch der Ausgangspunkt sein, jetzt etwas anzupacken. Vieles wird ja von Gewerbevereinen gemacht, Städte haben Wirtschaftsförderer, es gibt Quartiersmanagement. Vieles müsste stärker zusammen und abgestimmt passieren. Zum Beispiel Gründerzentren: Müssen die unbedingt an der Uni sitzen? Können die nicht auch in Leerständen in der Peripherie entstehen, oder in Bous, in Ensdorf … Wir bräuchten auch so etwas wie eine Dezentralisierungsstrategie. Nehmen Sie das Thema Sulzbachtal, wenn wir beispielsweise über die Erweiterung von Cispa reden.
Was würde das für den Handel in den Städten und Kommunen ändern?
Man muss sich ehrlich machen: Handel wird sich durch Online-Angebote verändern, ob wir es wollen oder nicht, und das wird man nicht mehr zurückdrehen können. Was wir bräuchten ist so etwas wie ein saarländisches Amazon. Das Land müsste den Fachhändlern in den Innenstädten eine Plattform geben, wo sie ihre Angebote machen können, ohne der Allmacht von Amazon oder anderen großen Anbietern ausgeliefert zu sein. Viele machen ja Onlineshops. Die basieren aber auf den großen Plattformen und erhöhen damit die Abhängigkeit. Und wir bräuchten dazu – auch aus Klimaschutzgründen – ein logistisches System dahinter. Wenn es einfach wäre, beim saarländischen stationären Einzelhandel einfach online zu kaufen, würden das viele tun. Heute gebe ich bei Amazon ein Stichwort ein und ein Paketdienst bringt mir die Ware am nächsten Tag vorbei. Was das für ökologische Folgen hat und was es für die Arbeitsbedingungen der Menschen bedeutet, wird kaum hinterfragt. Es wäre also eine Aufgabe für die Landesregierung, eine Handelsplattform zu entwickeln, wo alle saarländischen Händler niedrigschwellig ihre Angebote machen können, und eine lokale Logistikkette aufzubauen. Man muss also das Thema Innenstadt viel breiter denken. Die Innenstadt der Zukunft wird kein reiner Handelsstandort sein. Wir müssen Innenstadt viel mehr als sozialen Ort mit Handel, Produktion und Wohnen denken.
Wie passt dazu der teilweise Rückzug großer Konzerne und Filialisten?
Es gibt auch da eine Entwicklung. Der Eigentümer von Karstadt-Kaufhof, der aus dem Immobilienbereich kommt, nimmt in einigen Städte aus einzelnen Etagen seiner Häuser die Verkaufsflächen raus und macht dort beispielsweise Co-Working-Angebote oder im Obergeschoss Wohnungen. Es gibt einen Rückzug des großflächigen Einzelhandels von der Fläche. Corona hat da einige Entwicklungen beschleunigt, die ohnehin in den nächsten Jahren gekommen wären. Deshalb wäre wichtig, das aufzunehmen. Wir bräuchten dringend einen Landesentwicklungsplan Siedlung. Derzeit machen die Kommunen, auf gut Deutsch gesagt, was sie wollen. Deshalb haben wir einen Donut-Effekt: Die Ränder werden fett und die Mitte blutet aus. Innenstadtentwicklung ist Siedlungspolitik, ist Mobilitätspolitik, ist Handelspolitik, ist am Ende auch Förderung von Start-ups und Technologie, und natürlich ist es Standortpolitik: Wo gehen die Leute gern hin? Fühlen sie sich da sicher? Ist da Grün, ist da vielleicht Wasser, kann ich mich da hinsetzen, kann ich da aufs Klo gehen? Da geht nicht mehr in erster Linie darum, welcher Bodenbelag in die Fußgängerzone kommt. Man muss sich also nicht nur politisch zusammensetzen, sondern auch mit der Zivilgesellschaft, um zu besprechen, wo es in den nächsten Jahren hingehen soll. Innenstadt ist viel mehr als Handel. Man braucht Kreativität, um sie zu bespielen. Und ich glaube, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um solche Innenstadtprozesse zu gestalten, weil jetzt die Sensibilität dafür da ist.