Nicht einmal Club-Legende Frank Lampard konnte sich länger auf dem Trainerstuhl des FC Chelsea halten. Nun soll Thomas Tuchel es richten. Bisher scheint es zu passen.
Frank Lampard war über Jahre als Spieler das Gesicht des FC Chelsea. Für viele war er über eine lange Zeit einer der besten Mittelfeldspieler auf der Insel, vielleicht sogar in Europa. Als er nach seinem ersten Trainerengagement bei Derby County dann an die Seitenlinie seines Herzensclubs zurückkehrte, war das für die Fans eine Liebesgeschichte, wie sie es im Fußball selten gibt. Warum es diese Liebesgeschichten so selten gibt, zeigte sich dann im Jahr 2021. Denn dann war die Ära Lampards schon wieder vorbei. Zu Beginn seiner Amtszeit wirkte es noch so, als könne aus den beiden etwas Längerfristiges werden. Chelsea war geprägt von jungen Spielern, auch weil die Transfersperre ihren Teil dazu beitrug. In dieser Phase spielten die Blues ordentlich. Nach der Unterbrechung durch das Coronavirus fing es aber schon an zu bröckeln. Geschützt hat ihn dabei sein Legendenstatus. Zur neuen Saison wurden dann, der abgesessenen Transfersperre sei Dank, mächtig in den neuen Kader investiert. Satte 250 Millionen flossen in Ablösesummen für neue Spieler – darunter auch für Timo Werner und Kai Havertz. Doch mit dem neuen Spielermaterial stieg auch der Druck auf Lampard – und dem war er nicht gewachsen.
Es war keine klare Philosophie zu erkennen, die Neuzugänge in Persona Havertz und Werner wurden nie wirklich in das Spiel integriert – beide mussten immer auf ungewohnten Positionen spielen. Nachdem die Blues dann auf dem zehnten Tabellenplatz landeten und keine wirkliche Hoffnung auf Besserung in Aussicht stand, zog Club-Boss Roman Abramowitsch die Notbremse. Er setzte die Club-Legende vor die Tür und verpflichtete mit Thomas Tuchel einen Trainer, der im vergangenen Jahr im Finale der Champions League stand.
Manchester City ist Chelsea enteilt
Dorthin muss der ehemalige Trainer von Mainz, Dortmund und Paris die Londoner nicht direkt führen, vorerst soll an der Stanford Bridge wieder guter und erfolgreicher Fußball gespielt werden. Tuchel, dem eine sehr hohe Fachkompetenz nachgesagt wird, scheint dafür der richtige Mann zu sein. So wirkt es auch nach den ersten Spielen. Vor allem Timo Werner, der seit fast 1.000 Minuten kein Tor mehr erzielt hatte, scheint unter Tuchel auf einer neuen Position aufzublühen. Am Mikrofon von „Sky Sports" strahlte er nach seinem Tor und freute sich, seine drei Monate dauernde Torflaute in der Premier League „endlich" beendet zu haben: „In den letzten Monaten war es nicht so, dass ich glücklich war, nicht zu treffen." Als Stürmer, ergänzte der 50 Millionen Euro teure Neuzugang aus Leipzig, „willst du immer treffen. Am Ende ist es ein Teamsport, und wenn wir gewinnen, ist alles gut. Wenn ich dem Team mit herausgeholten Elfmetern, Vorlagen oder Toren helfen kann, bin ich glücklich. Ich bin sehr stolz." Viele Chancen hatte Werner in den vergangenen Spielen gehabt „und habe sie vergeben". Aber: „Das Team bringt mich in viele Situationen, in denen ich treffen kann. So wie heute. Das ist das Wichtigste für mich: Wenn ich weitermache, werden die Tore kommen. So wie heute", sagte er nach dem 2:0-Erfolg gegen Newcastle United in der vorletzten Woche. Profitiert hat Werner vor allem durch seine neue, aber irgendwie auch alte Rolle. Er muss nicht mehr auf den Flügel ausweichen, wie unter Lampard, sondern kann sich auf der linken Zehner-Position mehr oder weniger frei bewegen und Räume schaffen. Mit seiner enormen Schnelligkeit kann er aus dieser Position auch Läufe in die Tiefe generieren. „Es ist sehr wichtig für uns, dass wir am Ende die Champions League erreichen", erklärte Werner nach dem fünften Sieg im sechsten Pflichtspiel unter Tuchel, bremste aber zugleich deutlich: „Am Anfang der Saison sagte jeder, wir seien einer der Favoriten auf die Meisterschaft. Ich denke, die letzten zwei Monate haben gezeigt, dass wir das nicht sind. Wir haben viel Arbeit vor uns, um die Lücke zu Manchester City und anderen zu schließen. Aber jetzt ist der Fußball, den wir spielen, gut. Die Spiele waren nicht sehr einfach, aber wir haben eine Entwicklung gezeigt und bewiesen, dass wir die Top vier erreichen können. Und nächstes Jahr vielleicht mehr."
Doch wie genau ist Tuchel sein neues Projekt fußballerisch angegangen? Es ist schon etwas länger her, da saß Thomas Tuchel noch als Trainer von Paris Saint-Germain in einem Kino mit Rio Ferdinand und philosophierte über seine Idealvorstellung von Fußball. Dieser müsse „wie ein Orchester sein", sagte er damals: „Jeder hat seine Rolle. Jeder muss wissen, wo sein Platz auf dem Spielfeld ist. Der Spieler muss ein genaues Bild davon haben, was er zu tun hat und wie das aussehen kann. Spieler einfach ihrer Intuition zu überlassen, das ist zu viel für sie", erklärte Tuchel. Das war im Jahr 2019 –
und unwissend legte er damals schon den Finger in die Wunde des derzeitigen Chelsea-Dilemmas. Lampard war nicht der richtige Dirigent für das Fußball-Orchester an der Stamford Bridge.
Tuchel ist der Dirigent, der dort fehlte. Aus launischen Superstars in Paris formte er eine Mannschaft, die es dann auch ins Finale der Champions League schaffte. In London wartet auf ihn eine zum einen hochtalentierte Mannschaft, die, gespickt mit Strategen wie N’golo Kante und Jorginho, genau zum Tuchel-Fußball passt. Andererseits sind eben die vorhandenen Spieler ihm schon von Beginn an zugeneigt gewesen. Mit Thiago Silva arbeitete er in Paris zusammen, ließ den Kontakt nicht abbrechen. Antonio Rüdiger wollte er vergangenen Sommer an die Seine nach Paris lotsen. Christian Pulisic gelang unter Tuchel beim BVB der Durchbruch. Zudem scheint es Werner und Havertz nun gut zu tun, dass der neue Coach ihre Sprache spricht. Scherzhaft sagte Werner dazu auf einer Pressekonferenz: „Mir tut es gut, dass mein Trainer mich jetzt in meiner Sprache anschreien kann."
Tuchel setzt seit Amtsantritt auf Dreierkette
Taktisch gesehen jonglierte Tuchel in Paris mit einigen Systemen. Mal 4-3-3, mal 4-2-3-1, mal 4-4-2. Dort folgte ihm die Mannschaft und spielte teils höchst ansehnlichen Fußball. Bei den Blues setzt er seit Beginn seiner Amtszeit auf eine Dreierkette. Zudem hat er dem eigentlich geschassten Torhüter Kepa eine zweite Chance gegeben. Vor ihm agieren meist Thiago Silva, Rüdiger und César Azpilicueta. Auf den Außenbahnen, die bei einer Dreierkette Schlüsselpositionen sind, hat er ebenfalls genug Material zur Verfügung. Die Doppelsechs mit Kante und Jorginho erfüllt Tuchels Anforderungen an gutes Passspiel allemal. Auf den beiden Zehnerpositionen hinter Sturmtank Olivier Giroud findet sich derzeit Timo Werner wieder. Prädestiniert ist diese Position auch für Kai Havertz, der derzeit aber auch unter Tuchel noch nicht wirklich aufblühen konnte. Schuld daran waren aber auch immer wieder kleinere Blessuren. Wenn es nach Tuchel geht, brauchen sich die Fans aber keine Gedanken um ihren Rekordzugang machen: „Wir wissen um das Potenzial, das Kai in sich hat. Manchmal brauchen Spieler eben lange, um sich zu akklimatisieren. Es gibt keinen Zweifel, dass er sein Potenzial hier entfalten wird und einschlagen wird."
Für viele war es der richtige Schritt von den Blues, den deutschen Trainer zu verpflichten. Einige kritische Stimmen wurden aber trotzdem laut: Das Engagement in Paris endete und einen Monat später hatte er schon einen neuen Club. Dabei argumentieren einige, dass der Deutsche sich durchaus mehr Zeit hätte lassen können, bevor er eine neue Aufgabe annimmt. Gerade auch, weil es in Barcelona und Madrid auch nicht so rundläuft. Doch Tuchel entschied sich bewusst für die Blues an der Stamford Bridge. Vielleich ist es nach den Ausnahmekickern in Paris nun an der Zeit, einem strauchelnden Riesen in England ein neues Gesicht zu geben. Die Blues und Tuchel – das könnte passen.