Der Lietzenseepark in Berlin erfreut sich großer Beliebtheit. Kein Wunder. Hier finden Besucher so ziemlich alles an Abwechslung und Naturschönheiten, was gerade jetzt der Seele gut tut.
Knatternd schwebt ein dunkelblauer Polizeihubschrauber wie eine bauchige Libelle über der Eisfläche. Wortfetzen, eine Mischung aus harschem Befehl und Bitte, warnen die Kufenkünstler, Schlittenfahrer und Vater, Mutter, Kind. Das Eis, es trägt noch lange nicht, Lebensgefahr, sofort ans Ufer! Die meisten fügen sich. Aber als das Ungetüm aus der Luft langsam abdreht, wogt die Menge zurück auf den gefrorenen See. Wie fahrlässig so manche Leute doch sind, auch wenn man es vielleicht verstehen kann! Der Lietzensee, inmitten von Berlin Charlottenburg gelegen, wird immer beliebter, nicht nur in Corona-Zeiten.
Da seine Stadt mit London oder Paris von der Größe her nicht mithalten kann, leidet mancher Berliner an einem Minderwertigkeitskomplex. Deshalb gibt er gerne an und reißt den Mund zuweilen ganz schön auf. Selbst eine renommierte Tageszeitung sah den Lietzenseepark von einem Hauch des New Yorker Central Parks umweht, was als leichte Übertreibung gewertet werden muss. Solch einen lächerlichen Vergleich hat der Park jedoch auch gar nicht nötig, er genügt sich selbst, liegt einfach da und lässt falsches Lob ebenso lässig über sich ergehen wie seine Besucher. Er weiß, was er zu bieten hat.
Ein Generaladjutant ließ im 19. Jahrhundert den Park gestalten
Den Mittelpunkt des weitläufigen Areals bildet ein natürlicher See, gut sechs Hektar groß, drei bis vier Meter tief, der sich sichelförmig als nördlichster der sogenannten Grunewaldseenkette zwischen breiten Ausfallstraßen im Berliner Westen erstreckt. Eigentlich handelt es sich um zwei Seen, die durch einen künstlich aufgeschütteten Damm, heute die Neue Kantstraße, seit 1904 getrennt und für den Spaziergänger erst später durch eine Unterführung und einen kleinen Kanal wieder verbunden wurden. Den See und den Park gibt es also im Doppelpack, wobei das gesamte Ensemble eher als ausgedehntes und künstlich angelegtes nördliches und südliches Seeufer zu beschreiben ist.
Tausend Jahre und mehr lag der Lietzensee wild in der Landschaft, bis Generaladjutant Witzleben (1783–1837), ein Berater des Königs Friedrich Wilhelm III., das Gelände erwarb und eine Seite des Sees zu einer Parkanlage umgestalten ließ. Das heutige Gesicht und den Charakter des Lietzenseeparks aber verdanken die Charlottenburger einem anderen. Es war der in Lübeck geborene Erwin Barth (1880–1933), ein junger Reformgartenarchitekt, der die Planung und Gestaltung der Stadtplätze mit einem klaren Ziel verfolgte: „Der Jugend zum Spiel. Dem Alter zur Ruh. Der Stadt zum Schmuck." Barth stellte sich damit ganz bewusst in eine Linie mit der aus England und Amerika stammenden „Volksparkbewegung", die den öffentlichen Grünlagen weniger repräsentative als soziale und gesundheitliche Funktionen zuwies. Ganz sicher eine Reaktion auf den Moloch durch Industrialisierung, Großstadthektik und proletarischen Alltag in engsten Mietskasernen. Mehr Wohlfahrt für alle statt bloßes Flanieren für vereinzelte Müßiggänger – dieser Leitgedanke schlägt sich in jedem Detail der Parkgestaltung nieder und ist bis heute der Grund für seine immer zunehmende Beliebtheit. Er bietet alles, was dem Volk gefällt.
Wer wissen will, wo sich in dieser Gegend seine pubertierenden Kinder herumdrücken, kichernd und knutschend auf Parkbänken sitzen oder sich auf Liegewiesen räkeln; wer ergriffen im warmen Licht des Sonnenuntergangs ein Schwanenpaar unter tiefhängenden Zweigen der Trauerweide beobachten will, auf dass ihm dabei ganz rührselig ums Herz wird; wer hier sein Flanierbier in Ruhe trinken will und Gleichgesinnte sucht; wer einfach nur Federball oder Tischtennis spielen oder seinen Hund ausführen will; wer auf grüner, von Büschen und Bäumen umrahmter Wiese Platz sucht für Familienfeste, Kindergeburtstage, Picknicks, Hochzeitsfotos; wer auf einer der Bänke am Seeufer sehen und gesehen werden will und gehört hat, dass ganz sicher gerade an seinem Plätzchen pensionierte Fernsehmoderatoren, Tatort-Kommissare und andere Schauspieler, Theaterleute und Popsternchen vorbeilaufen werden –
sie alle sind hier richtig.
An lauen Sommerabenden oder in Corona-Zeiten kann es durchaus ein wenig rummelig werden. Aber so soll es ja auch sein, so ist der Park auch angelegt. An der großen, leicht abfallenden Wiese am Nordeingang schlängeln sich die Wege vorbei an robusten Trimm-Dich Geräten, führen durch Laubengänge zu einem stets gut besuchten Kinderspielplatz oder zu einer kleinen, künstlich angelegten Wasserkaskade. Und immer mal wieder ist ein ruhiger Platz zu finden auf zahlreichen Bänken, die in umrankten Nischen stillen Rückzug erlauben. Hier steht das ehemalige Parkwächterhaus, versunken im Dornröschenschlaf. Eine rührige Bürgerinitiative bemüht sich hartnäckig um Renovierung und Wiedereröffnung. Dem 2004 gegründeten Verein Bürger für den Lietzensee ist noch mehr zu verdanken. Seine Mitglieder engagieren sich dafür, dass der Lietzenseepark nicht verwahrlost. Vandalismus und hirnlose Verschandelung gibt’s auch hier. Gerade deshalb muss der Park durch Gemeinsinn verteidigt werden, damit er bleibt, was er sein soll – Freizeitanlage fürs Volk, Ensemble sorgfältig arrangierter Gartenkunst für Flaneure.
Von einer Sitzbank das Panorama des Parks überblicken
Im südlichen Teil geht es ein wenig gesitteter und stiller zu, hier grenzt der Lietzensee an ruhige Straßenzüge gesetzten Wohlstands. Zahnärzte, Rechtsanwälte und Oberstudienräte wohnen hier. Auch dort mächtige Bäume, ahornblättrige Platanen mit weit ausladenden Kronen, die ehrfürchtiges Staunen hervorrufen. Alles ist auf dieser Seite ein wenig zeitlupenartiger; ruhige Flecken direkt am See, nicht selten übt sich der Einzelne in Sonnengruß, Achtsamkeitsübung und Meditation. Der breite Uferweg läuft direkt auf die Bronzefigur eines sandalenbindenden Jünglings zu. Eine anmutige Statue, die schönste im Park, eingerahmt von Sitzbänken, von denen das ganze Panorama des südlichen Parks zu überschauen ist. Ganz am Ende ist die große Kaskade zu bewundern, durch deren einzelne Becken sich im Sommer das Wasser in den See ergießt. Zu beiden Seiten einer kleinen Steinbrücke wird das Mündungsbecken von einer schneeweißen Pergola umgeben, deren Schatten ein strenges Muster auf den Weg zeichnet. Vielleicht ist dies der schönste Blick auf den See? Oder ist es doch jener Blick, der auf der anderen Seite über die glitzernde Fläche zum Funkturm schweift, der zu besonderen Anlässen bei Einbruch der Dunkelheit in bunte, wechselnde Farben getaucht wird? Den genießt, wer auf einem Logenplatz auf der Terrasse des Fährhauses direkt am Wasser sitzt. Man zahlt für Speisen und Getränke, nun ja, sportliche Preise.
Ob im Frühling das zarte Grün, im Sommer das satte Gelb oder im Winter das fahle Licht – oder ist es der Herbst, der alles in klarster Zeichnung malt und die ganze Pracht der Natur zum Greifen nah heranrückt? Ein jeder hat seine Lieblingszeit, ein Spaziergang dort lohnt jedoch das ganze Jahr über. Der Lietzenseepark streichelt die Seele seiner Besucher – und das braucht man ab und zu. Und gerade jetzt.