Vor 70 Jahren begann die Atomgeschichte in Deutschland. Und mit ihr der Widerstand und Kampf um Alternativen. Jo Leinen war unter anderem als Sprecher für den Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) von Anfang an mit dabei.
Das Wunderkind der Nachkriegszeit war die Atomkraft. Mit der Kernspaltung sollte eine billige und sichere Stromversorgung etabliert werden. Deutschland, wie auch andere Industriestaaten, planten den Umstieg von Öl- und Kohlekraftwerken zu großen Atomkraftwerken. In der Anfangseuphorie der 50er- und 60er-Jahre träumten einige Politiker, wie Franz-Josef Strauß, von einer Vollversorgung mit Atomenergie. Gemäß den Energieplänen aus dieser Zeit sollte die Bundesrepublik bis zu 70 Atommeiler beherbergen.
Die Rechnung wurde jedoch ohne den Wirt gemacht, und das war die Bevölkerung an den vorgesehenen Standorten. Die wassergekühlten Reaktoren mussten in der Nähe von Flüssen gebaut werden. Nicht jeder an Rhein, Donau, Elbe, Main, Neckar und Weser wollte sich mit einem dampfenden Koloss in der Nachbarschaft und in der Flussaue abfinden. So entstand schon früh öffentlicher Widerstand gegen den Bau von Atomanlagen. Früher Kulminationspunkt des Protestes war der Widerstand gegen das Atomkraftwerk Wyhl am Kaiserstuhl. Buchstäblich die gesamte Bevölkerung dieser Region am Oberrhein widersetzte sich den Bauarbeiten. Das unglaubliche für die damalige Zeit geschah: Der Bauplatz wurde besetzt und ein Hüttendorf mit einer eigenen Volkshochschule entstand. Das Besondere war auch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Badener mit den Elsässern in den „Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen". Dieser europäische Ansatz des Bürgerprotestes hat mich 1974 dorthin gebracht. Ich habe schnell gelernt: Die Kernspaltung erzeugt nicht nur eine physikalische, sondern auch eine gesellschaftliche und politische Kettenreaktion. Mitte der 70er-Jahre gab es eine wachsende Anti-AKW-Bewegung – und das weltweit. Das Wissen über radioaktive Strahlung, über die Ausmaße von Atomunfällen und die ungeklärte Atommüllentsorgung nahm zu und damit auch die Bedenken gegen diese Art der Energieerzeugung. Es entstand der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), ein Zusammenschluss von über 1000 Initiativen quer durch die Republik. Da ich damals in Bonn arbeitete und wohnte, wurde ich zum bundesweiten Koordinator und Sprecher dieser dynamischen Bewegung. Es entstand eine regelrechte Protestkultur mit Liedern, Theaterstücken, Postern und Stickern. Der bekannteste war wohl die lachende Sonne mit dem Slogan „Atomkraft Nein Danke".
Protestkultur in den 70er-Jahren
Apropos Sonne: Erneuerbare Energien waren noch in den 70ern so gut wie nicht im Energiemix vorgesehen. Sie titulierten als sogenannte Restenergien für vielleicht fünf Prozent des Energiebedarfs. Es waren die Umweltinitiativen, die öffentlich machten, dass die Sonne 10.000-mal mehr Energie auf die Erde schickt, als die Menschheit verbraucht. Die Forderung nach einer Energiewende entstand vor 50 Jahren. Traurig zu sehen, dass die Chancen einer umweltfreundlichen Energieversorgung immer noch halbherzig genutzt werden.
Trotz der vielfältigen Proteste war die Atom-Lobby noch zu stark. Es steckten ja auch viele Forschungsgelder und große Gewinnerwartungen in den Atomanlagen. Und die Atomgemeinde bereitete die zweite Generation vor. Eine Plutoniumwirschaft mit schnellen Brütern und Wiederaufbereitungsanlagen. Entsprechend schnell wuchs auch der Widerstand. Die Demonstrationen an den Standorten wurden immer größer und heftiger. Die Bilder von Kalkar, Grohnde, Brokdorf und Wackersdorf sind noch in bester Erinnerung.
Die politische Elite war nach wie vor auf Atom-Kurs, die öffentliche Meinung schon mächtig dagegen. CDU/CSU und FDP hielten der Atomkraft die Treue. In der SPD gab es hitzige Parteitage mit Bundeskanzler Helmut Schmidts Pro-Atom- und Erhard Epplers Dagegen-Kurs, mehrfach mit knapper Mehrheit und Unterstützung der damals mächtigen Gewerkschaft Bergbau und Energie für die Fortsetzung des Atomkurses. Auch das führte 1979 zur Gründung einer neuen Partei: Die Grünen. Das Atom hatte die SPD gespalten. Viele wechselten zu den Grünen, die bald in die meisten Landtage und den Bundestag einzogen.
Ein mächtiger Schuss vor den Bug war 1986 der Super-GAU in Tschernobyl. Niemand hätte sich vorstellen können, dass die radioaktive Wolke sich über 2.000 Kilometer bis zu uns ausbreitet und weite Landstriche verseucht. Kinder sollten im Haus bleiben, Wildfleisch und Pilze nicht mehr gegessen werden. Auch im bürgerlichen Lager wuchs der Zweifel gegenüber der Atomenergie. Aber es war ja ein sowjetischer Reaktor und damit schlechter als die unsrigen. Das half noch eine Weile als Argumentation, aber nicht mehr lange.
Die erste rot-grüne Bundesregierung beschloss 1998 eine Energiewende mit dem Ausbau aller erneuerbaren Energien, vor allem der Solar- und Windkraft. Neue Technologien und Prozesse haben diese Energiequellen stetig kostengünstiger und verfügbarer gemacht. In Zeiten des Klimaschutzes wird sogar eine Vollversorgung mit Erneuerbaren Energien angestrebt. Neben dem Umweltaspekt ist dieser Sektor mittlerweile ein Wachstumsmarkt. Deutschland ist dank der jahrzehntelangen Energiediskussion und dem frühen Start mit Ökologieprozessen gut vertreten.
Für den endgültigen Ausstieg aus der Atomenergie musste die Erfahrung mit einem zweiten GAU gemacht werden. Vor zehn Jahren im japanischen Fukushima war es nicht ein kommunistischer, sondern ein kapitalistischer Reaktor, der havarierte. Die Moral von der Geschichte: Die Katastrophe konnte überall passieren. Das hatte Folgen. Der Atomausstieg in Deutschland bis zum Jahr 2022 wurde parteiübergreifend als Gesetz beschlossen. Hat die Atomenergie damit in Deutschland ausgestrahlt?
Tausende Tonnen Atommüll
Nicht ganz. 70 Jahre Atomgeschichte lassen Tausende Tonnen Atommüll übrig. Die Entscheidung über ein atomares Endlager soll bis zum Jahre 2030 fallen. Der Salzstock in Gorleben zeigt sich als ungeeignet, was viele schon lange wussten. Das Wendland wurde 1977 nicht aus wissenschaftlichen, sondern aus politischen Gründen für ein Atommülllager auserkoren. Es lag direkt an der Grenze zur damaligen DDR und damit weit vom Schuss. Jetzt gibt es einen Neustart zur Suche. In einem öffentlichen, transparenten und wissenschaftsbasierten Verfahren soll der beste Standort gefunden werden. Nicht hinter verschlossenen Türen, sondern im Deutschen Bundestag per Gesetz. Ein neues bürgerschaftliches Gremium wird im Nationalen Begleitgremium (NBG) neutral darüber wachen, dass das Verfahren nach den Vorgaben des Gesetzes abläuft. Die regionalen Gebietskonferenzen werden von den Bürgern wie von Bürgermeistern und Landräten selbst organisiert. Aus den Fehlern der Vergangenheit will die Republik lernen und es dieses Mal besser machen. Von den 27 Ländern der Europäischen Union nutzen die Hälfte keine Atomanlagen, die anderen aber schon. Vor allem Frankreich steckt noch tief in der Abhängigkeit von Atomstrom und tut sich schwer damit, herauszukommen. Die vier Meiler in unserer Nachbarschaft in Cattenom sind ein permanenter Reibepunkt zwischen Luxemburg, dem Saarland und dem Moseltal. Sorge macht die Verlängerung der Betriebslaufzeiten der bestehenden Kraftwerke. Materialermüdung ist ein aufkommendes Sicherheitsproblem. Hier hat die EU eine bleibende Rolle zu spielen: Tranzparenz der Atomdaten herzustellen und die Sicherheit zu überprüfen.
Die Kernspaltung wurde zuerst militärisch benutzt. Der zweite Weltkrieg war der Treiber für diese Technologie. Die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki bleiben im Gedächtnis der Menschheit als mahnendes Menetekel erhalten. Die sogenannte friedliche Nutzung der Kernspaltung wird als relativ kurze Episode der Energiegewinnung in die Geschichtsbücher eingehen. Im 21. Jahrhundert gibt es bessere und weniger risikoreiche Alternativen. Und zudem: Die Sonne schickt keine Rechnung. Die erneuerbaren Energien werde zur Genüge und auch günstig zur Verfügung stehen. Der Kampf gegen die Atomenergie hat sich dann vollends gelohnt.